Ich glaube, dass Cyberpunk aus der Stimmung der 80er heraus zu verstehen ist. Es geht gar nicht um Unterdrückerstaaten, sondern um den Verlust eines Konzeptes wo in der Welt rechts und links sind. In den 80ern war die Welt sehr klar zwischen zwei Seiten aufgeteilt Ost und West. Was Gibson getan hat, war die Frage zu stellen, was, wenn es den Schlagabtausch zwischen den beiden Seiten nicht geben wird, wenn all die Hysterie sich totläuft. Wie würde sich die Gesellschaft entwickeln, die so orientiert ist auf diesen Konflikt, bewaffnet, idealisiert, panisch? Seine These war, dass sich die Menschen der westlichen Welt in immer absurderem Maße dem Zeitgeist hingeben würden, der sich zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem dritten herausgebildet hat. Und weil der dritte eben nie kam, treibt das Verhalten eben heftigste Blüten. Also zerbröckelt alles langsam und an die Stelle von Staat und Nationaler Identität treten Betriebszugehörigkeit, Subkultur, Parallelwelten. Diese bieten jedoch keine echten Identitäten mehr und so versinken die Protagonisten der Cyberpunkgeschichten in einsamer Beliebigkeit.
Die Auflösung der Identität erfolgt jedoch nicht nur auf sozialer und psychischer Ebene sondern auch auf der physischen. Körperteile verlieren ihre Relevanz, werden verändert oder modifiziert, oder auch zum Instrument einer Identitätsstiftung benutzt. Doch auch dies bleibt hoffnungslos. Der Mensch hat sich in der selbst konstruierten Welt unrettbar verloren und ist ein Fremdling.
Diese Trostlosigkeit kann ein Rollenspiel ja gar nicht auffangen, weil es im Cyberpunk schon gar keine Gruppen geben kann. Es gibt ja keine echten Beziehungen mehr. Die einzigen dichten menschlichen Verbindungen sind Glaubengemeinschaften, die irgendwie realitätsfern und verrückt wirken.
Cyberpunk ist letztendlich die Absage an den Kapitalismus als befriedigende Gesellschaftsform, weil er ihn konsequent zuende denkt. Alles was vermarktbar gemacht werden kann, wird vermarktet, alles was nicht vermarktbar ist wird vollständig entwertet. Zurück bleibt aber nicht eine wundervolle glückbringende Warenwelt, sondern die Erkenntnis, dass es das irgendwie auch nicht war.
Spielercharaktere aber sind megakapitalistische Konzepte. Man investiert Zeit und Energie und das setzt sich um in Wachstum und Machtgewinn. Virtuell natürlich. Viel Geld einzunehmen ist gut, weil man mehr Cyberware oder Waffen kaufen kann wodurch man Aufträge annehmen kann für die man dann noch mehr Geld einnehmen kann. Das ist Kapitalismus. Ich habe mich übrigens schon damals bei SR1 gefragt, warum mein Charakter so blöde ist, sich für 400.000 Creds Cyberware zu kaufen, statt eine Hacienda in Belize, wo er dann den Rest seines Lebens Daiquiris schlürfen kann.
Postcyberpunk und Transhumanismus stehen auf einem ganz anderen Blatt Papier und sind wesentlich aktueller. Ich glaube nicht, dass man die im Zusammenhang mit Cyberpunk sehen kann. Das wäre genauso wir die Moderne und die Postmoderne in einen Topf zu werfen.