Okult ist ein spielleiterloses Horror-Storygame. Die Grundvoraussetzung erinnert an Stephen Kings "Es". Jugendliche geraten in einer Kleinstadt in irgendwelchen mysteriösen Schlamassel, ziehen dann weg und treffen viele Jahre später bei einem Besuch o. ä. in der Heimatstadt wieder zusammen. Die Begegnungen mit alten Bekannten und neue Ereignisse fördern längst verdrängte Erinnerungen zutage, die Aufschluss geben über irgendetwas Schreckliches, was den Ort heimsucht.
Das Spiel basiert auf ein paar einfachen Einstellungen, die aber auf großartige Weise ineinander greifen.
Eskalationsstufen: Bei Okult werden die einzelnen Szenen des Spiels wie bei vielen anderen spielleiterlosen Storygames auch reihum von den Spielern geframet. Üblicherweise dienen diese Szenen dazu, die Erlebnisse der Spielercharaktere darzustellen. Bei Okult kommt es aber hin und wieder auch zu Szenen, in denen keine Spielercharaktere auftauchen. In diesen Szenen übernehmen die Spieler ausschließlich Nebencharaktere. Wird eine solche Szene geframet, geht das Spiel in die nächsthöhere Eskalationsstufe über. Das Spiel beginnt mit der Eskalationsstufe "normal", nach der ersten Szene ohne Spielercharakter ist die Eskalationsstufe "eigenartig" erreicht... das geht weiter bis zur sechsten und letzten Eskalationsstufe ("schreckenerregend"). Die Eskalationsstufen haben keine regeltechnisch festgelegten Auswirkungen auf das Spiel, sie stellen aber einen konstant wirksamen Hinweis darauf dar, wie stark der Horror in der jeweiligen Phase des Spiels ist und wirken sich dadurch auf die entstehende Geschichte der Spieler aus. Gleichzeitig sind sie ein Anhaltspunkt dafür, wie nah die Aufdeckung der Geheimnisse in der Heimatstadt sind. Ein spielleiterloses Rollenspiel, in dem es um die Aufdeckung von Mysterien geht, braucht einen Fingerzeig für die Spieler, der erkennen lässt, wie weit die Handlung fortgeschritten ist. Die Eskalationsstufen leisten genau das.
Der Ort des Geschehens und die dort agierenden Spielercharaktere werden im Setup durch ein einfaches Verfahren ausgestaltet: Jeder Spieler liefert eine Idee, die aus seinem eigenen Leben stammt und eine weitere, die mit seinem Leben gar nichts zu tun hat. Das Verfahren führt dazu, dass es im Spiel ein paar Elemente gibt, die einem Spieler irgenwie vertraut vorkommen... was den Gruseleffekt möglicherweise etwas steigert. Dazu unten mehr.
Die Charaktererschaffung findet anschließend auf zwei Zeitebenen statt: Wie war der Charakter in seiner Jugend und wie ist er in der Gegenwart. In dieser Hinsicht werden durch Impulse des Spielers (die die Mitspieler aufgreifen) und durch Impulse der Mitspieler (die dann der Spieler aufgreift) zwei Fragen entwickelt, die im Fokus des Charakters stehen: eine Frage für die Vergangenheit und eine Frage für die Gegenwart. Im Spiel wird diesen Fragen nachgegangen. Wenn sie beantwortet sind, denkt sich der Spieler des Charakters eine neue Frage aus. So besitzt ein Charakter in den Rückblenden, die Aufschluss über seine Vergangenheit bieten, und in gegenwärtigen Szenen immer ein Hauptanliegen, das die Geschichte voranbringen kann, wenn nichts anderes anliegt.
Während der Charaktererschaffung werden außerdem Verknüpfungen zwischen den Charakteren erstellt, wodurch sichergestellt wird, dass ein gemeinsames Spiel stattfinden kann.
Im eigentlichen Spiel wechseln sich Szenen in der Gegenwart mit Rückblenden ab. Zunächst ist das fest verankert: Jedesmal, wenn ein Charakter einen anderen zum ersten Mal in der Gegenwart wiedersieht, erfolgt eine Rückblende. Dadurch wird sichergestellt, dass die Vergangenheit der Charaktere entscheidend auf den Spielverlauf einwirkt. Wenn sich alle Charaktere wiedergesehen haben, erfolgen Rückblenden nur noch bei Bedarf. Die Regelung ist ein schönes Beispiel für die Spielphilosophie von Okult: Soviel Regeln wie nötig, soviel Freiheit wie möglich.
Wenn eine Szene etabliert (geframet) ist, beginnt ein freies Spiel der angesagten Charaktere am betreffenden Ort zur betreffenden Zeit. Dabei verwendet Okult einen ebenso simplen wie verblüffenden Mechanismus. Jeder Spieler kann über den von ihm kontrollierten Charakter frei verfügen. Wenn ein Spieler behauptet irgendeine Handlung des Charakters gelingt, dann gelingt sie. Nur wenn er eine Frage an seine Mitspieler richtet, gibt er in diesem Moment seine Kontrolle ab. An dieser Stelle wird deutlich, dass Okult ein waschechtes Storygame ist. Primäres Ziel ist es jedenfalls nicht, seinen Charakter einer ruhmreichen Zukunft entgegenzuführen. Primäres Ziel ist es, eine interessante Geschichte zu erzählen. Und wenn ich nicht ganz sicher bin, was für ein Fortgang der Geschichte am interessantesten ist, dann frage ich eben einfach meine Mitspieler. Die überlegen selbst, welcher Fortgang der Handlung am interessantesten wäre. Und der, der da am schnellsten zu einem Schluss gekommen ist, wird irgendwann den Mund aufmachen und weitererzählen. Auf diese Art und Weise wird ein jeglicher Zufallsmechanismus überflüssig. Wenn ich frage, weiß ich nicht, wie meine Mitspieler antworten. Das ist in Okult Zufallsmechanismus genug. Der Mechanismus hat noch eine weitere Auswirkung: Durch die Fragen werden die Mitspieler immer wieder ins Geschehen hineingeholt. Bei einer Sitzung Okult wird niemand nebenbei auf seinem Smartphone herumklickern. Er ist permanent gefordert, da ja jederzeit ein Mitspieler ein Frage stellen kann. Dafür muss man stets auf dem neuesten Stand sein. Wir haben sogar das Spiel unterbrochen, wenn jemand auf Toilette musste. Das ist mir noch bei keinem anderen Rollenspiel passiert.
Wie gut am Schluss dann die bisherige Handlung zu einer überrschenden Enthüllung mit zünftigem Showdown führt, ist natürlich von verschiedensten Faktoren abhängig. Da die Spieler aber wissen, dass es am Schluss genau einen solchen Moment herbeizuführen gilt, werden sie sich auch darum bemühen. Und genau da liegt eine weitere Spannungsebene des Spiels: Gelingt es uns, unserer Geschichte ein schlüssiges, schockierendes Horrorfinale zu verleihen? Dann war die Runde erfolgreich. Ich saß über weite Stecken des Spiels auf der Vorderkante meines Stuhls.
Ich habe eine Gruppe von Spielern erlebt, die Okult abgelehnt hat. Das lag hauptsächlich an der Tatsache, dass in die Konzeption der Spielercharaktere ein Aspekt aus dem wahren Leben eines Spielers mit eingeht. Die Spieler dieser Runde hatten offensichtlich Angst davor, durch dieses Spiel auf irgendeine Weise durch die Hintertür auf dem Psychologensofa zu landen. Nach einer sensationellen Spielerfahrung kann ich aber sagen, dass das Quatsch ist. Erst einmal bestimme ich selbst, welches Element aus meinem Leben Eingang ins Spiel findet. Dann weiß niemand, welches das Element aus meinem Leben ist und welches Element gerade nicht aus meinem Leben ist. Schließlich ist das Element aus dem eigenen Leben genau das: nur ein Element. Es ist eine einfach abrufbare Inspirationsquelle, die das Spiel beschleunigt und in der Regel auch sehr schnell weiterentwickelt wird. Schon sehr bald hat sich die Handlung von der realen Vergangenheit eines Spielers entfernt. Von daher ist nicht davon auszugehen, dass da irgendwelche größeren Probleme auftauchen. Wenn sich aber ein Grusel einstellt, weil ein Spieler im Spiel punktuell an eigene Erfahrungen erinnert wird, dann ist das wohl durchaus im Sinne eines Horrorrollenspiels.
Okult dauert ingesamt vielleicht 10 - 14 Stunden. Zwei oder drei Sitzungen sind also angebracht.
Okult ist eines meiner ganz zentralen Spielerlebnisse in den letzten Jahren! Ich bin sehr glücklich über das Spiel.