Ich denke, diese Entwicklung spiegelt als Detail die gesamte Entwicklung von Rollenspielszenarien wieder.
Früher, in den absoluten Anfangsjahren dieser Spielegattung genügte es, die Spieler mit den Worten: "Tötet den bösen Magier und räuchert sein verborgenes Refugium aus!" in die Dungeons zu schicken. Warum er böse war, war von untergeordneter Bedeutung, der war ZIEL, nicht tragendes Storyelement. So reichte eine dünne Begründung meist schon aus, um gegen ihn zu Felde zu ziehen. Also sagte man: "Er will das Tal (den Wald, die Küste, die Stadt) beherrschen und sine Unholde terrorisieren die Umgebung." Das reichte aus. Es kam nicht darauf an, die Ursachen seiner Herrschsucht zu ergründen, ihn zu verstehen. Denn am Ende des abends würde er eh' tot sein. Es kam einfach darauf an, in seine Kerker zu laufen Würfel zu schwingen, seine Schergen kaputtzukloppen und ein paar Schätze abzugreifen. YäY, auf in dem Kampf!
vgl. Rote Magier von Thay in der 1st Edition.
Im Laufe der Jahre trat in diesem Hobby jedoch eine Wandlung ein. Dinge wurden hinterfragt. Auf einmal wurde Tiefe wichtig, Begründungen, langjährige Abläufe und Veränderungen. Auf einmal gab es so etwas wie Politik. Es gab nicht mehr nur "den Herrscher des Reiches" und gut is'. So langsam bekam er Nachbarreiche. Konkurrenten und Verbündete, die auch 20 Spielabende später noch Bedeutung hatten und dementsprechend ausgearbeitet werden mussten.
Und auch die Feinde wurden so facettenreicher. Die gab dem Spiel auch weitaus mehr Möglichkeiten. Nun war es längst nicht mehr die einzige Lösung, die Bösen zu töten. Man konnte nun in ihre Strukturen eindringen, weil man sie verstehen konnte. Ihre Schwächen ausnutzen, um selbst aus unterlegener Position wirksam gegen sie vorzugehen.
vgl. Magier von Thay in der 2nd Edition.
Was allerdings in der 3rd Edition los ist, kann ich hier nicht beantworten. Vielleicht scheint in einer globalisierten, marktwirtschaftlichen Welt, in der es anders als in den 80ern noch konkrete Machtblöcke gab, bloßes Hegemoniestreben antiquiert zu wirken?
Ich bin mir sehr sicher, daß auch Rollenspiele zeitgeschichtliche Bewustseinsveränderungen wiederspiegeln können. Demnach IST heutzutage die Welt ja auch konturloser und schwammiger geworden. Der Welthandel bestimmt alles, echte Machtkämpfe zwischen annähernd gleichwertigen Gegnern (USA-UDSSR) scheinen von gestern zu sein. Nackte Gewalt ist nicht mehr probat, heute regelt man alles über Vasallen, Abhängigkeiten, Pakte...
Wundert es da, wenn auf einmal die Magier von Thay zu Händlern werden? Wundert es da, wenn Tremere weniger rabiat vorgehen und sich ihre Abhängigkeiten anderweitig schaffen?
Zugleich wird diese heutige Konturlosigkeit von den Menschen auch so empfungen. Die Grenzen sind verschwommener geworden, das klare Feindbild fehlt oder ist zu diffus (Menschenschlepperketten, Albanermafia...) , um echte Emotionen auf sich ziehen zu können. DAS Böse, die monolithische Bedrohung von früher fehlt auf einmal.
Und hier kommt die Königin der Borg in's Spiel: Diese ist höchstwahrscheinlich der aktuell vorherrschenden Schule der Dramatik zuzuschreiben. In fast allen massentauglichen Filmen, die in letzter Zeit gedreht wurden, musste es eine FeindPERSON geben, mit der man ein klassisches Showdown veranstalten konnte (Mit grauen denke ich an die Neuauflage der Zeitmaschine). Hier tritt also keine Verkomplizierung ein wie zuvor im RPG-Bereich, sondern eine Simplifizierung. Nie sind alle ein bißchen Mitschuld, es ist immer nur "DER Böse", der die Fäden zieht. Hier sind die Grenzen noch klar, hier ist alles deutlich: Schaltet man ihn aus, wird alles wieder gut. Hier sehe ich ganz eindeutig einen Verlust an Tiefgang, der seine Verbindung auch im realen Leben hat:
Schalte Bin Ladn aus, dann ist der Terrorismus weg!
Setze Saddam Hussein ab, dann kommt der Nahe Osten zur Ruhe!
Kanzler Schröder und sein Sparminister sind Schuld an der Steuererhöhung, also muß man auf sie schimpfen (resp. am besten abwählen).
Die Welt wird zunehmend aus solch einer billigen Hollywoodperspektive betrachtet. Auf jeden Fall ist man zu faul, die wirklich komplexen, diffusen Strukturen zu durchdenken, angesichts der Tatsache, daß man doch viel einfacher irgendwelche in den Medien präsenten Führungsköpfe verantwortlich machen kann. Wer mag sich schon mit Zahlen, Gesetzen und verborgenen Beziehungsgeflechten auseinandersetzen, wenn man genausogut "Heda! Zurücktreten!" rufen kann?
Zusammenfassend behaupte ich also, daß sich das Rollenspiel seit seiner Erfindung partiell immer mehr dem Realismus angepasst hat und zeitgemäße Strömungen mit in sich aufnimmt. Und eine dieser zeitgemäßen Strömungen ist das Verschwinden "DES bösen" Feindes, der durch ein schier unentwirrbares Geflecht ersetzt wurde.
Sovuel dazu, ich würd' gerne mehr schreiben, muß aber noch was einkaufen, also Tschüß.