Vielleicht vertrete ich jetzt hier eine unpopuläre Meinung, aber:
Ich glaube, wir lernen gar nicht mal so viel bis gar nichts durch Rollenspiel.Zumindest nicht durchs Rollenspiel an sich: Wenn wir allein die großen Settings nehmen (DSA, Shadowrun, Splittermond) lernen wir genau 0 von denen. Wir lernen z.B. nichts übers reale Mittelalter, indem wir ein Fantasy-Rollenspiel spielen. Es mag Settings geben, deren Quellenbücher uns tatsächlich historisch informieren (Cthulhu fiele da ein), aber die sind in der Unterzahl und im Zweifelsfall werden sich die meisten SLs ohnehin entscheiden, eine total akribische Simulation einer Zeitepoche zugunsten einer besseren Dramaturgie oder eines flüssigeren und offeneren Spielerlebnis zu unterlassen.
Natürlich: Rollenspiel kann uns dazu bringen, dass wir uns mit zusätzlichen Quellen beschäftigen und so neue Erkenntnisse gewinnen. Aber Rollenspiel an sich dürfte außerhalb von Nischensettings nicht so viel vermitteln. Nicht über Settinginformationen.
Aber was ist mit
"Ich lerne was über meine Freunde, wenn ich Rollenspiel mit ihnen spiele..."Zwei Gedanken dazu:
1. Ich lerne was über meine Freunde
egal welche Aktivität ich mit ihnen mache. Beim Fußball, beim Partymachen, beim Reden mit ihnen. Da Rollenspiel prinzipiell ein langes Gespräch ist, lässt sich der Erkenntnisgewinn über meine Mitspieler nicht vermeiden. Aber: Rollenspiel hat nicht das Monopol darauf.
2. Das Beispiel mit dem Michaeliten (
) oben, von "Engel", das finde ich nicht schlecht, aber auch etwas ernüchternd. Es sagt nämlich effektiv Folgendes: Auch Rollenspieler können nicht aus ihrer Haut. Wenn sie als Spieler keine guten Anführer sind, sind ihre SCs auch keine. Wenn sie keine extrovertierten Menschen sind, können sie auch keine spielen. Wenn sie keine Frauen sind, können sie auch keine exakt darstellen. In der Tat mag das vielleicht sogar stimmen. Aber wenn ich daraus jetzt ableite, wie ich mein Rollenspiel mit meinen Freunden gestalte, beschränkt sich der Erkenntnisgewinn auch aufs Rollenspiel. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, ob der Mensch im obigen Beispiel ein schlechter Anführer ist oder einfach nur die anderen Spieler beteiligen wollte. Ich hatte bei "Engel" z.B. schonmal einen demokratisch eingestellten Michaeliten, der ein ganz hervorragender Anführer war. Aber das nur am Rande.
Das Ganze führt mich zu einem dritten Gedanken: Zu dem Dogs-Beispiel. Also, wie ist es:
Ich lerne doch etwas über bestimmte Menschen, deren Gefühle und Motive ich ergründe, indem ich sie spiele.Hier wäre ich ganz besonders vorsichtig. Wenn wir den Gedanken von eben festhalten ("Ich kann nicht aus meiner Haut..."), dann spiele ich einen Charakter in der Regel so, wie ich ihn meinem Horizont entsprechend spielen kann. Spiele ich einen religiösen Fanatiker, dann prägt mein Bild als Spieler das, wie ich diesen religiösen Fanatiker spiele. Der Gedanke "Oh, so muss sich wohl ein religiöser Extremist fühlen und so wird er wohl denken" ist hochproblematisch. Der Charakter kocht im eigenen Saft. Durchbrochen wird das Ganze nur durch Input von außen. Aus uns selbst heraus können wir zu Themen, von denen wir nichts verstehen, keine authentischen Charaktere spielen. Einfacher Grund: Die meisten Settingbücher gehen auch die Psychologie, den Hintergrund, die soziale Prägung, etc. von SCs nur sehr punktuell ein. Ein Spiel kann natürlich tolle Regeln haben, um bestimmte Verhaltensweisen oder Situationen hervorzubringen, die mit dem Thema in Verbindung stehen. Und auch von SL-Seite kann Input geliefert werden, der uns Erkenntnis beschert (wenn der SL die Diskriminierung von Frauen in einem 50er-Jahre-Noir-Setting drastisch ausspielt und ein Spieler einen weiblichen Charakter hat). Aber: Rein aus Spielersicht erreichen wir keine objektive Erkenntnis über unseren Charakter, wenn wir nicht Quellen von außen hinzuziehen. Der Schauspieler nennt das
Rollenstudium. Ich kenne kaum Rollenspieler, die sich wirklich in ihre Rollen Aufwand investieren, um zu verstehen, wie Leute aus dem Milieu oder Hintergrund ticken, aus dem der eigene Charakter kommt.
Das finde ich übrigens jammerschade. Ich habe vielfach das Gefühl, dass die Beschäftigung mit der darstellerischen, schauspielerischen Seite des Rollenspiels ein furchtbares Tabu ist, obwohl sie am Spieltisch eigentlich ständig auf die Probe gestellt wird. Es gibt zig Ratgeber darüber, wie man Regeln benutzt, Problemspieler im Zaum hält oder Settings, Plots, Abenteuer und Szenen gestaltet, oder auch NSCs konzipiert. Niemand schreibt darüber, wie man ein guter Schauspieler am Rollenspieltisch wird, womit man arbeiten kann, welche Techniken es da gibt. Niedriger und hoher Status sind da das Höchste der Gefühle. Aber was mache ich mit meinem Gesicht? Mit meiner Stimme? Mit meinen Gesten? Nada, Fehlanzeige. Gibt es da kein Bedürfnis nach. Ich habe schon dass Bedürfnis, meine SCs unterhaltsam darzustellen. Und da lässt einen die Community doch recht allein.
Zusammenfassend: Wenn ich wissen will, wie ein religiöser Extremist so ist, muss ich mich außerhalb des Rollenspiels damit beschäftigen. Beim Rollenspiel ist alles gefiltert. Auch wenn wir uns gerne einreden, viel beim Rollenspiel zu lernen: Rollenspiel bringt uns ohne einen Mehraufwand in Form von Recherche oder ein sehr zielgerichtetes Spiel nichts übers echte Leben bei. Vielleicht ein paar Soft Skills, das war's.
Die meisten Rollenspieler wollen keine Erkenntnis, sondern Eskapismus. Wer mir nicht glaubt: Schreibt mal eine Runde auf einer Con aus, wo man explizit normale Menschen spielt, ohne phantastische oder übernatürliche Elemente. Ich garantiere euch eine leere Runde.