Ich habe 20 Jahre Midgard gespielt und es wurde nach und nach immer langweiliger. Allerdings hat es eine Weile gebraucht, bis ich das gemerkt habe. Das lag daran, dass ich ein paar andere Systeme kennengelernt habe (und das lag wiederum am Tanelorn). Ich habe plötzlich gemerkt, was alles noch so möglich ist.
Ich will zwei Situationen schildern, bei denen mir klar geworden ist, dass Midgard mich für immer verloren hat:
1. Das war in einer Fate-Runde (auch nicht mein Wunschsystem, aber für ein paar denkwürdige Erfahrungen gut): Die Charaktere kämpften gegen einen Wächtergolem und es sah nicht gut aus. Eigentlich wollten sie in einen Turm, aber die Tür war abgeschlossen. Die Charaktere hatten kaum Chancen, den Golem zu besiegen und auch keine Zeit im Kampf gegen ihn das Turmschloss zu knacken. Was nun? Einer der Spieler erzählte daraufhin, dass er sich vor der Tür postiert und dann den Golem provoziert. Im letzten Moment wollte er sich dann wegducken und auf diese Weise erreichen, dass der Golem unwillentlich mit seiner gewaltigen Faust das Schloss zum Turm zerschmettert. An den Haaren herbeigezogen? Kann schon sein, aber doch auch irgendwie cool! Eine Situation, wie ich sie mir in einem Film oder Roman ganz gut vorstellen könnte - und nicht zuletzt immerhin eine Chance in einer ansonsten aussichtslosen Situation. Ich kann mich nach 20 Jahren Midgard nicht an eine derartige Situation erinnern. Ich glaube, das liegt daran, dass die Regeln sehr genau beim Wort nennen, was sie simulieren wollen. Und die Spieler, die diese Regeln anwenden, machen dann auch nichts anderes mehr, als das, was die Regeln simulieren wollen. In Midgard gibt es keine Regel für das Öffnen von Türen mittels Täuschung überschwerer Gegner. Daher kommt auch gar niemand darauf (jedenfalls war das bei uns so). Wenn ich aber Regeln habe, die ein bisschen offener sind und nicht alles haarklein festlegen wollen, dann entstehen gemeinsam mit dem Interpretationsbedarf auch neue Ideen. Für mich war das ein besonderes Erlebnis.
2. Kurz nach Fate habe ich Itras By kennengelernt, ein Rollenspiel mit ein paar Entscheidungs- und Zufallskarten, das war´s. Es ist noch viel weniger geregelt als bei Fate. Bei meiner ersten Runde habe ich intensives Charakterspiel erlebt wie noch nie. Und nicht nur das: Ich habe erlebt, wie es aussehen kann, wenn Charakterspiel an erster Stelle steht. Das ging, weil nicht mehr Regeln an erster Stelle standen. Ich habe so langsam begriffen, dass Regeln zwar wichtig sind, dass für mich aber mindestens genauso wichtig ist, was nicht geregelt ist. Es muss nicht jedem so gehen, aber Leerstellen fördern meine Kreativität. Das geht mir übrigens auch bei Fiasco so. Und deshalb kommt mir Midgard inzwischen so unendlich öde vor. Midgard will möglichst keine Leerstellen.
Erstmal Disclaimer:
1. Sorry, wenn ich jetzt erst antworte, aber ich war ein paar Tage away...
2. Ich will nicht diskutieren, dass Midgard vielleicht doch irgendwo noch Dein System ist. Also ist das hier kein Missionierungsbeitrag. Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Midgard zu reden...
Vielmehr will ich auf was hinaus, das eigentlich Systemunabhängig ist.
3. Bei Bedarf können wir gern ein Thema daraus machen...
Meine Perspektive auf Midgard entspricht ja nun der exakten Gegenrichtung - ich habe seit 2004 (seit meinem ersten Tanelorntreffen) jede Menge alternative Spielweisen getestet und ausprobiert und im Forum auch jede Menge Techniken und Möglichkeiten gelesen und diskutiert. Und danach bin ich zu Midgard gekommen...
Was ich festgestellt habe: Natürlich sozialisiert einen das Rollenspiel, mit dem man sehr lange gespielt hat irgendwo. Und natürlich liefert es, falls man relativ 'unerfahren' an das System kommt und dort verweilt eine Orientierungshilfe, aber damit automatisch auch eine Prägung. Das System diktiert dann, wie gespielt wird, weil man sich an den Regeln orientiert und daraus ableitet, was möglich ist (und im Umkehrschluß meist ableitet, dass eben nur das möglich ist, alles andere ist nicht umzusetzen). Dazu kommt, dass viele Systeme (insbesondere der Mainstream) auf ähnliche Weise funktionieren und damit auch eine einheitliche Prägung hinterlassen (ketzerisch:DSA wird auf die gleiche Weise gespielt wie Midgard, CoC, WoD und Shadowrun auch...). Deswegen wird in vielen Fällen auch durch informellen Austausch mit Spielern anderer Mainstream-Systeme kein Paradigma-Wechsel ausgelöst.
Trifft man dann auf völlig andere Systeme und alternative Techniken (wie hier früher wird diskutiert), erlebt man plötzlich eine emotionale Befreiung.
Wie einengend war das alte, wie erleichternd anders und innovativ alles erlaubend, was man vermißt geglauben hat, ist das Neue.
Und genau da möchte ich Widersprechen...
Zum einen hat man nichts konkretes vermißt, weil man es ja nicht mal gekannt hat - die eigene frühere Unzufriedenheit wird ja nur vage verspürt, weil man es mangels Wissen ja nicht mal ausformulieren konnte.
Aber das ist nicht das wesentliche!
Wesentlich ist:
Das alte System hat eigentlich nichts verboten. Es hat lediglich die "neuen Möglichkeiten" nicht aufgezeigt.
Im schlechtesten Falle behindern die Regeln die gewünschte neue Spielweise (siehe den Rowlf Kampfsystem Topic).
Okay, im allerschlechtesten Fall verhindern die Regeln eine gewünschte Spielweise (man wird mit Midgard kaum sowas wie Primetime Adventures spielen können),
aber dann sollte man sich ernsthaft fragen, was man die letzten Jahre gemacht hat, wenn das alte so 180 Grad an dem vorbeigeht,
was man sich eigentlich vom Rollenspiel versprochen hat...)
Was vorher passiert ist, ist, dass man sich die Möglichkeiten aus den Optionen gewählt hat, die das alte System aufgezeigt hat, ohne, dass man hinterfragt hat,
ob andere Optionen vielleicht auch machbar sind - einfach durch Techniken und ohne daß Regeln dies explizit umsetzen.
Und ich denke, in vielen Fällen, wird man darauf stoßen, daß man mit dem alten System durchaus vieles von dem hätte umsetzen können,
was man sich neuerdings wünscht und das es eigentlich nur gefühlte Enttäuschung ist, die einen daran hindert, es mal zu versuchen...
Das und natürlich das Risiko, immer wieder in die alten, ausgetretenen Pfade zu trampeln und dann doch wieder so zu spielen, wie man es aus Gewohnheit (ge)macht (hat).
Manches kann einem natürlich verwehrt bleiben, weil man plötzlich ganz neue Wege beschreiten will.
Midgard wird niemals ein Stunt-Action-Rollenspiel werden, wie es Feng Shui oder Exalted sein soll. Dazu ist es viel zu unspektakulär in seinen Möglichkeiten.
Aber gerade beim Charakterspiel ist ja nach deinen eigenen Aussagen das Fehlen und das Weglassen und nur Ausspielen das relevante.
Und da ist das System eigentlich nebensächlich.
Und bei der Szene mit dem Wächtergolem kann ich nur sagen: Es kommt darauf an, mit welcher Perspektive man ein Rollenspielsystem spielt. Wie gesagt, wenn man damit aufgewachsen ist, sieht man nur das als möglich an, was geschrieben steht. Kommt man aber aus der Position, dass die Regeln Werkzeuge sind, der man sich bedienen kann, die aber auch Interpretationen zulassen und das nicht entscheident ist, was die Regeln 'wollen' sondern, dass nur das zählt, was die Leute am Tisch wollen, ist vieles plötzlich ganz anders. In meiner Runde wäre das nie ein Thema gewesen, den Golem als Türöffner zu mißbrauchen - ob das möglich wäre? Ja, aber....!