Ich bin mit dem Ende noch nicht ganz zufrieden und ich fürchte, mir fällt keine vernünftige Überschrift ein. Ich habe mich diesmal daran versucht, eine Spur Horror einfließen zu lassen und hoffe, das kommt beim Leser auch an. Trotzdem stelle ich die Story jetzt ein. Muss ja nicht perfekt werden.
»Muss es denn wirklich heute sein?«, murrte Aegir.
»Du hast gestern noch drauf bestanden. Und man erkennt den Wert eines Mannes auch daran, ob er hält, was er im Suff verspricht. Du kannst gern einen Rückzieher machen, aber dann sprechen wir beide nie wieder über das Thema und alle werden wissen, dass ich Recht habe.«
In einer Sekunde des Schreckens war Aegir fast soweit, das gute Bier zu verfluchen. Aber so blöde war er dann doch nicht. Sein Weib hatte ihm erlaubt, mit seinem Ohm zu fahren und die Riesen anzusehen, also hatte er keine praktische Ausrede mehr parat. Seine Hoffnung, dass Runald am nächsten Morgen irgendeine fadenscheinige Erklärung liefern würde, warum sie doch nicht zu der Rabeninsel fahren konnten, hatte sich ebenfalls nicht erfüllt. Also musste er wohl oder übel in das Boot einsteigen.
Mürrisch erledigte er die Zuarbeiten, während Runald die ersten Schläge mit den Rudern tat. Sobald sie Fahrt machten, das kleine Segel sich im Wind spannte und das Ufer reichlich entfernt war, holten sie die kleinen Skulls ein und ersetzten sie durch Riemen. Schweigend pullten sie im Gleichtakt, vorgegeben von dem erfahrenen Fischer.
Schließlich gab Runald das Kommando zum Ausheben der Blätter. Sie überließen sich dem Wind, der für ihre Unternehmung günstig stand. Nur selten fuhr ein Fischer so weit abseits der Küste, dass er die Sichtweite der Heimat verließ. Aber natürlich war ihr Volk abenteuerlustig und neugierig, sodass auch die Gewässer jenseits des Horizontes schon zur Genüge erforscht waren. Um allerdings zur Rabeninsel zu gelangen, musste man einige tückische Riffe und Untiefen passieren - eine Unternehmung, die niemand mehr ohne Not auf sich nahm.
»Wie lange denkst du, brauchen wir noch - bei dem guten Wind?«, fragte Aegir. Zumindest hatte er Hoffnung, den ganzen Unsinn schnell hinter sich zu bringen.
Runald wiegte den Kopf, zog mal an diesem Seil, mal an jenem und knurrte dann: »Wir sollten uns nicht auf die Winde verlassen. Spätestens am Revvensund müssen wir uns wieder in die Riemen legen. Aber bis dorthin brauchen wir noch etliche Stunden. Gib ruhig zu, dass du keine Lust mehr hast, die Fahrt zu machen. Ich werde dennoch nicht umdrehen. Du hast deinen Mund zu weit aufgerissen, jetzt werde ich dich mit dem Gesicht darauf stoßen, bis du deine zweiflerische Rede ablegst.«
»Zweiflerische Rede?«, empörte sich Aegir. »Ich habe nur gesagt, was jeder denkt. Wenn Odin die Eisriesen besiegt hätte, wüssten wir doch schon längst davon. Wieso sollten dann noch Krieger in die Walhall einziehen? Wieso den Göttern danken, dass sie uns beschützen, wo die Gefahr schon abgewendet ist? Vielleicht sind es gar nicht die Eisriesen, sondern irgendein anderes Geschlecht? Ich habe ja nie daran gezweifelt, dass auf der Rabeninsel seltsame Dinge vorgehen. Aber es gibt garantiert vernünftigere Erklärungen als ...«
Runald fuhr ihm ins Wort: »Du bist auf meinem Boot. Hier dulde ich nicht, dass du solche Reden schwingst wie in Ragnilds Schenke. Hüte deine Zunge, du bringst Unglück über unsere Fahrt!«
Doch Aegir dachte gar nicht daran, still zu sein. »Oh, jetzt spielt der Ohm seinen größten Trump: Er hat ein Boot! Ich sage dir: Bis ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, dass Hugin und Munin über diese Riesen wachen, glaube ich dir keine Silbe.«
Das schien der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass von Runalds Geduld zum Überlaufen brachte. »Halt dein Maul, du Götterleugner. Und halte es geschlossen bis zum Revvensund, sonst setzt es was!«
Der Fischer war von der schweren Arbeit bärenstark und hatte Schultern, die über die Bordwand zu ragen schienen. Seine Miene war düster, die buschigen Augenbrauen zuckten wütend. Diesmal gab Aegir nach. Er wollte keinen Faustkampf mit dem Oheim anfangen.
Wie vorausgesagt ließ sie der Wind nach mehreren Stunden im Stich. Die Meerenge, die man durchfahren musste, um zur Rabeninsel zu gelangen, war auch schon in Sicht. Steile Klippen hatten verhindert, dass sich hier Fischer ansiedelten. Niemand wollte seinen Fang etliche hundert Schritt weit nach oben schleppen, wo doch weiter südlich dutzende Naturhäfen darauf warteten, genutzt zu werden.
Das Wetter wurde schlechter. Nieselregen setzte ein, während Runald die Riemen wieder in die Dollen wuchtete und seinen Neffen anwies, den Ruderplatz einzunehmen. Vorsichtig steuerte er sein Boot zwischen den Riffen und Felsen entlang. Währenddessen wurde sie Sicht immer schlechter.
»Da scheint sich die Rabeninsel vor uns verstecken zu wollen.«, versuchte Aegir einen müden Scherz, doch sein Onkel grunzte nur unwillig.
Nach einer Stunde war der Nebel so dicht, dass er keinen Anhaltspunkt mehr hatte, um festzustellen, ob sie die Meerenge bereits vollständig durchquert hatten. Runald schien sich seiner Sache immer noch sehr sicher, steuert unbeirrt durch die Wand aus kaltem Dampf. In der Ferne war das raue Rufen der Raben hörbar.
Blöder Kerl, dachte sich Aegir. Wahrscheinlich lag die Rabeninsel die ganze Zeit in solchem Nebel. Damit boten sich wunderbare Möglichkeiten für Seemannsgarn. Hinterher würde Runald allen erzählen, dass es leider nichts geworden war. Zu schlechte Sicht. Doch er würde darauf bestehen, die Riesen zu sehen, würde seinen Onkel zwingen, zu landen und die Insel zu erkunden.
Flügelschlagen erscholl über ihnen. Nur einige wenige Male, dann war es wieder still. Die Raben tönten weiter im Nebel. Dann ließ sich einer der Vögel direkt auf dem Mast nieder und beäugte die beiden Ruderer mit glasharten Augen. Ihm folgten weitere, die in völliger Lautlosigkeit Platz nahmen, bis die obere Kante des Segels ganz schwarz vom Gefieder der Tiere glänzte. Ihre Füße krallten sich in das Holz und schienen, als wären sie Sporne, die das Segel an den Mast hefteten.
»Hugin und Munin. Ha.«, flüsterte Aegir, doch er getraute sich schon nicht mehr, lauter zu sprechen. Die Blicke der Raben drückten ihn ins Boot. Er duckte den Kopf und ruderte weiter.
Runald schien immer noch so zornig zu sein, dass er kein einziges Wort sagte. Verbissen pullte er, pullte er, pullte er.
Die Stille zerplatzte wie eine Blase in zähkochendem Brei. Die Luft füllte sich mit Flügelrauschen und dem Krächzen hunderter, nein tausender Raben. Aegir meinte, sogar den Wind zu spüren, den die Schwingen zu ihm herabwehten. Das Gewicht auf seinen Schultern wurde immer schwerer. Der Blick der Vögel auf dem Mast fraß ihn auf, schälte ihm den Mut und den Trotz ab wie die Häute einer Zwiebel. Noch mehr Druck und er würde den Boden des Bootes durchbrechen und sie beide in ein nasses Grab befördern.
»Weißt du denn noch, wo wir sind?«, fragte er und schämte sich, weil seine Stimme so jämmerlich klang. Das Zittern seiner Worte unterdrückend, fügte er hinzu: »Wie weit ist es noch?«
Runald schwieg weiter, starrte an seinem Neffen vorbei in den rauschenden, flatternden, krakraenden Nebel. Mal setzte er einen Schlag aus, mal pullte er doppelt, doch immer schien er den Kurs genau zu kennen.
Dann schrammten Felsen über den Kiel des Bootes. Aegir wäre am liebsten über Bord gesprungen, besser im eiskalten Wasser als weiter unter dem Blick der Raben. Nun schien sogar der Grund des Meeres aufzusteigen, entschlossen, ihn zwischen dem grauenhaften Starren der Vögel und seiner schrundigen Härte zu zermalmen.
Weitere Hugins und Munins landeten, setzten sich still auf die Bordwand, die Dolle, schoben und zwängten sich, um den besten Platz auf dem Vorsteven zu erobern. Doch sie alle schwiegen und starrten, obwohl sie gelegentlich flatterten und aneinandergerieten. Klapp-Klapp machten ihre riesigen Schnäbel drohend, wenn ein Konkurrent zu nahe kam.
Gut achtzig Blicke waren nun ständig auf Aegir gerichtet. In Art der Raben drehten die Tiere ihre Schädel zur Seite, um ein einziges rundes Auge auf ihr Ziel zu lenken. Der Hals des jungen Netzknüpfers war eng, als hätte man ihm einen Kälberstrick drumgezurrt. Der Nieselregen plickte unermüdlich auf seiner Haut. Der Boden des Bootes schien ihn kaum noch tragen zu wollen.
Plötzlich tauchte vor ihnen das Ufer auf. »Ruder halt.«, kommandierte Runald. Er ließ sein Boot gekonnt am Strand landen. Dieser war über und über mit den Scherben von Muscheln bedeckt. Es knirschte, als würde ein Riese Sand kauen. Noch immer ließ der Nebel nicht zu, dass mehr von der Insel erkennbar war.
»Finden wir es heraus.«, knurrte der Fischer. Er richtete sich auf und sorgte so dafür, dass sich ein Drittel der Raben protestierend von seinem Boot erhoben und davonflatterten. Der Rest wollte offenbar nichts verpassen und blieb still auf seinen Plätzen.
Aegir folgte dem Beispiel seines Onkels wie in Trance. Als er stand, kam ein leichter Wind auf. Er wehte von der See her und zerstob einige Nebelfetzen, die am Ufer festhingen. Die frische Luft war eiskalt, aber sauber. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr das Boot schon nach Rabe gestunken hatte. Aasfresser. Kein Wunder.
Die Brise schob die Nebelbank landeinwärts. Immer weiter kroch der Dunst und offenbarte schließlich die Füße der Eisriesen. Einhunderttausend Rabenflügel schlugen und rauschten, brandeten an Aegirs Sinne, zerrissen seinen Verstand zu einem bepissten Fetzen aus Angst und ließen ihn schreien: »Ich glaube dir! Bei allen Göttern, ich glaube dir. Ich will nicht noch mehr sehen. Ich will zurück! Bitte! Oheim, lass uns fliehen, alles, nur nicht noch mehr von dieser Insel!«