Ich würde einen Schritt weiter fragen: Was ist die Verantwortung von Medien?
Und das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Wenn ich eine Serie über eine jüdische Weltverschwörung machen würde, die von Millionen von Menschen geschaut wird, und in Folge dieser Serie sich hunderttausende den Neonazis anschließen würden, hätte ich meiner Meinung nach eine Mitverantwortung dafür. Denn Menschen werden immer von ihrem Umfeld beeinflusst, und indem ich etwas veröffentliche, ändere ich dieses Umfeld (und zwar umso stärker, je mehr Leute ich erreiche, z.B. weil was ich mache qualitativ sehr gut ist — oder weil es von Nazis instrumentalisiert wird).
Im Rollenspiel haben wir den Vorteil, dass eine Runde weniger Leute erreicht, die wir auch noch alle kennen: Wir können abschätzen, was sich daraus ergibt. Dafür liefert es ein viel intensiveres und direkteres Erleben. Wenn sich nach drei Jahren Kampagne mit jüdischer Weltverschwörung einer meiner Spieler Neonazis anschließen würde, wäre das für mich schrecklich. Kann ich wirklich abschätzen, wie groß das Risiko davon ist?
So absurd die Frage scheint, stell sie dir ernsthaft. Könntest du sicher sein, dass du es nicht selbst bist? Hör dazu mal
Vaterland.
Andererseits braucht Kunst Freiheit.
Ein Problem des obigen Szenarios ist nicht nur das Thema, sondern auch, dass nicht alle dramatischen Möglichkeiten genutzt werden. Wenn alle plausiblen Plotaufhänger aufgegriffen würden — darunter z.B. alte Traumata durch KZ-Vergangenheit (jeder gute Antagonist ist der Held seiner eigenen Geschichte), Juden, die gegen Juden kämpfen (vielleicht gar gegen die eigenen Eltern oder die eigenen Kinder), um die Geschehnisse aufzuhalten, alte Nazis, die sich der Verschwörung anschließen, um Buße zu tun, usw. — dann könnte das Thema funktionieren. Und das wäre eine künstlerische Aufarbeitung. Aber es wäre trotzdem verdammt schwierig, ihm gerecht zu werden.
Allerdings wären darin nicht alle Juden böse. Wenn du wirklich alle Juden als böse darstellen wolltest, wärst du so weit von der wirklichen jüdischen Religion weg, dass ich dich fragen würde, warum du noch behauptest, mit einem wirklichen Vorbild zu arbeiten, denn dein "what if" würde nicht nur eine punktuelle Annahme weiterdenken, sondern vielmehr ein umfassendes in sich abgeschlossenes Weltbild aufbauen, in dem alles geändert würde, was nicht passt — und das, um in sich selbst konsistent zu sein, weitreichend von der Realität abweichen müsste.
Frage dich selbst ob ein Kunstwerk das dürfte, dann bist du schon sehr weit.
Diese Aussage von KhornedBeef sollte auch für die ethische Frage helfen.
Und ein weiterer Vorteil von Rollenspielen ist, dass das was wir spielen nur für uns selbst passen muss.
In einer Online-Runde würde ich das aber auf jeden Fall nicht machen, sondern nur in einer Gruppe von Leuten, die ich schon lange kenne, so dass ich einschätzen kann, ob das uns wirklich mehr Einblicke und gute Erfahrungen gibt als die vielen anderen Ideen, die wir noch nicht erkundet haben. Und ob wir mit dem umgehen können, was wir in uns selbst erkennen. Lies dir dazu mal
The Third Wave durch.
Dass der Spieler in deiner Runde so reagiert hat, kann ich übrigens gut verstehen: Stell dir vor, Nazis würden Online-Runden als Rekrutierungsmethode verwenden. Könntest du als Mitspieler einen handfesten Unterschied zwischen der von dir geleiteten Runde und einer Runde von Nazi-Rekruteuren erkennen? Wie würdest du als Mitspieler reagieren?
Die moralischen Grenzen sehe ich wie beim Wandern: Die Gruppe geht so langsam wie der langsamste in der Gruppe. Beim Rollenspiel: Die Runde achtet darauf, von Niemandem in der Runde die Grenzen zu übertreten. Das wird nicht immer funktionieren, aber mit etwas Achtsamkeit lassen sich die meisten Probleme vermeiden, und mit etwas Wohlwollen die wenigen unbeabsichtigten unerwünschten Grenzüberschreitungen verzeihen.
Was Vergewaltigung angeht: Das haben in Deutschland viel zu viele Leute erlebt, als dass du davon ausgehen könntest, dass du keine Traumata triggerst, wenn du das Thema aufgreifst. Ähnliches gilt für Kindesmisshandlung. Außerhalb des therapeutischen Kontextes ist das daher extrem riskant — und wenn du nicht gerade der verantwortliche (Vollzeit-) Psychologe deiner Spieler bist, kannst du es nicht kitten, wenn du etwas triggerst. Wenn du Leute aus Diktaturen in deiner Runde hast, könnte übrigens das gleiche für Folter gelten.