Wenn man also will, dass ein Charakter recht fiese Sachen durchmacht, ist man halt auf der sicheren Seite, wenn man da eher einen Mann, vorzugsweise einen Erwachsenen, einsetzt.
Ich denke, beim "fiese Sachen durchmachen" haben die Männer nicht unbedingt die Nase vorn. Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass die zwar häufiger angeschossen werden, aber kaum entführt oder vergewaltigt. Bedroht und verprügelt werden beide.
Wenn man es anders darstellt, muss man eben auch überlegen, wieso es anders ist.
Ich würde behaupten, dass die Rollenverteilung in Medien anders ist als in der wirklichen Welt.
Blödes Beispiel: Lehrer. In Deutschland und England sind Schullehrer vorwiegend weiblich. Zu Anteilen von zwischen 2/3 und 3/4. Verglichen damit hat Hogwarts einen ziemlich hohen Männeranteil beim Lehrpersonal. Ok, es ist Zauberfantasy, es ist ein prestigeträchtige Schule. Aber auch anderswo kommen in Medien mehr männliche Lehrer vor, als man erwarten sollte. Zumindest bei den Charakteren, die was Interessantes machen — der coole Questgeberlehrer, der den Jugenddetektiven den Backstagepass zum Museum besorgt, der alte Klassenkamerad, der dem Hauptcharakter mit den Physikfragen aushilft, der fiese Mathelehrer, der einen beim Schwänzen erwischt.
Und das ist auch in anderen Bereichen so. Aber diese verzerrte Darstellung muss nie begründet werden. Es ist plausibel, dass diese Geschichten in unserer Welt spielen anstatt in einem bizarren "Manniversum", wo sie von der Statistik gesehen hingehören. Weil sie zwar nicht der Wirklichkeit entsprechen, sondern unserem Bild von der Wirklichkeit, das sichtbare, aktive Männer und unsichtbare, passive Frauen normal findet. Und was wieder dadurch geprägt wird, dass man das in Büchern, Filmen, Serien, Comics, Computerspielen so gezeigt bekommt. Wir glauben halt, was wir sehen.
Es gibt diverse "Frauenliteratur".
Falls du willst, könntest du deinen Bücherschrank also locker zu 50% mit Literatur füllen, die einen weiblichen Protagonisten hat. Inwiefern diese Quote jetzt dein Lesevergnügen verbessert, sei dahingestellt.
Und die andere Hälfte mit äquivalenten Büchern für eine männliche Zielgruppe, mit John Sinclair und Jerry Cotton? Ne danke, das soll schon ein Buchregal bleieben und kein Behälter für extremst dünn geschnittenes Brennholz.
Aber es existieren ja durchaus hervorragende Bücher mit interessanteren Frauenrollen oder einer realistischeren Geschlechterverteilung als bei Tolkien oder Lovecraft. Und an und ab sehe ich mich gezielt in entsprechenden spezialisierten Listen um, um mir da die Rosinen rauszupicken. Es gibt sowieso mehr interessante Bücher, als ich jemals lesen könnte, ich muss sowieso auswählen, was ich mir reinziehe. Da sollte ich auf eine ausgewogenere Diät achten als mir einfach alles reinzuziehen, was mir gerade ins Auge springt.