Zum anderen haben wir da die Autorenebene, auf welcher es eine Nachvollziehbarkeit geben sollte/muss, die sich logisch in die Reihe der bisherigen Werke einfügen sollte.
Schon bei Lovecraft sind die verschiedenen Nyarlathotepe aus "Nyarlathotep", "The Dream-Quest of Unknown Kadath", "The Dreams in the Witch House", "The Whisperer in Darkness" und "The Haunter of the Dark" kaum unter einen Hut zu bekommen. Spätere Geschichten von anderen Autoren häufen dann einfach weitere Persönlichkeiten und Erscheinungsformen dazu, daher die Idee mit den verschiedenen Masken.
Da hinzugehen und eine zentrale Wahrheit festzulegen macht für mich wenig Sinn. Es ist ja nicht so, dass Lovecraft oder sonstwer zuerst einen Charakterbogen für Nyarlathotep gebaut hätte, den dann jeder irgendwie als Vorlage für seine Geschichte benutzen konnte. Im Gegenteil wurden immer neue und andere Geschichten geschrieben, wo der Name "Nyarlathotep" dann einfach irgendwie auftauchte. Auch aus Autorensicht ist "Nyarlathotep" daher kein zentrales, konkretes Konzept, sondern ein schwammiges Irgendwas, dass durch die Schnittmenge seiner Auftritte in verschiedenen Geschichten definiert wird.
Darum sind für mich die besten Quellen zu Nyarlathotep Dinge wie "The Nyarlathotep Cycle" von Chaosium und der Monstereintrag im Grundbuch von "Trail of Cthulhu", während ich mit den Einträgen aus der Wikipedia oder dem Malleus Monstrorum wenig anfangen kann.
Mit den Namen habe ich auch kein Problem — manche Leute heißen halt je nachdem Hercules oder Herakles, Arthur oder Artus, Echnaton oder Akhenaten oder Amenhotep oder Amenophis. Lovecraft hat keine Ahnung von arabischen Namen, weswegen "Abdul Hazred" bei ihm ein "ul/al/el" zuviel hat und daher klingt wie "Walther vong Vogelweide" und man daher vermuten kann, dass eine Person, die im englischen Sprachraum als "Abdul Alhazred" bekannt ist, auf der Straße eher als "Abd Al'Azrad" angesprochen wurde. Geschichtsinteressierte müssen ja auch damit klarkommen, dass "Karel de Grote", "Carlo Magno", "Charlemagne" und "Carolus Magnus" alle derselbe Typ sind, der auf Deutsch nochmal anders heißt.
"Imhotep" ist ein Baumeister unter König Djoser in der 3. Dynastie. Und ein Verwalter unter Tutmosis in der 18. Dynastie. Und ein Priester in einem "historischen" Krimi von Agatha Christie. Selbst wenn die Nummer mit Nephren-Ka/Nophru-Ka durch einen tatsächlichen Fehler entstanden ist, spricht doch überhaupt nichts dagegen, dass es im Spiel beide Charaktere geben kann. Vielleicht hat Nyarlathotep in jeder ägyptischen Dynastie einen Avatar oder Oberkultisten? Vielleicht sind "N*phr*-Ka"-Namen in Ägypten so verbreitet wie Klaus oder Monika?
Das macht es für Autoren bei neuen Szenarien natürlich mühsamer. Und ich hasse es, wenn da jeder sein eigenes Süppchen kocht.
In der wirklichen Welt gibt es für die meisten Themen auch keine allgemeinverbindliche Vorlage. Wer etwas zu "Liebe" oder zu "Deutschland" schreiben will, kommt nicht umhin, jede Menge Recherche zu betreiben und muss sich dann trotzdem auf einen limitierten Blickpunkt beschränken. Und zehn Schreiber werden mindestens zehn grundverschiedene Dinge dazu produzieren. Das ist natürlich mühsam und oft frustrierend, aber das liegt in der Natur der Sache.
Ich glaube einfach nicht daran, dass man mit einer klaren, knappen Vorgabe Ergebnisse erzielt, die so aussehen, als wären sie ein Beitrag zu einem komplexen, unfassbaren Ganzen. Gerade beim Rollenspiel kommt es ja immer wieder vor, dass alle Autoren ihre Geschichten, Romane und Abenteuer nach demselben Quellenbuch schreiben und das scheint meistens deutlich durch.
Auch hier sage ich: Man muss sich entscheiden zwischen dem wohldefinierten Nyarlathotep, zu dem man alle wichtigen Punkte irgendwo nachlesen kann oder dem mysteriösen Nyarlathotep, zu dem es nur weit auseinanderliegende oder widersprüchliche Angaben gibt, aus denen man sich selbst ein Bild basteln muss. Ich persönlich bin in dem Fall eher dafür, an irgendeine Geschichte den Namen "Nyarlathotep" zu pappen und die Legende damit um eine Facette zu erweitern, als wenn eine gute Idee rausfliegt, weil die nicht zu einem (willkürlich festgelegten) Kanon passt.