Also so stelle ich mir ein Setting vor, in dem es Gut und Böse (neben Chaos und Ordnung) als "absolute Kräfte" gibt.
Zuallerst sind da mal die fünf Prinzipien oder Ur-Gewalten: GUT, BÖSE, ORDNUNG, CHAOS, GLEICHGEWICHT. Gleichgewicht ist die schwächste der fünf Ur-Gewalten, aber immer noch eine Ur-Gewalt. Die fünf Ur-Gewalten sind quasi der Anfang und das Ende. Sie sind fast jenseits aller Vorstellungskraft und nur sehr begrenzt dem Verstand zugänglich. Ungefähr gilt, das GUT erschaffen und gedeihen lassen will, vor Leben und vor allem denkendes, fühlendes , komplexes Leben, während BÖSE zerstören und vernichten will, möglichst schmerzhaft und besonders gerne schmerzempfindliches Leben. ORDNUNG will herrschen und stabilisieren, CHAOS will unterscheiden, verändern und auch zerstören und neu erschaffen. GLEICHGEWICHT will im Wettkampf der Ur-Gewalten überleben.
Wollen und Tun ist hier ziemlich identisch. Die Ur-Gewalten sind nicht in irgendeiner Form frei, denkend oder selbstreflektierend, sondern versuchen einfach, ihr Prinzip durchzusetzen. Das ist natürlich alles bekannt von Moorcock, D&D und oWoD und wahrscheinlich noch 100 000 anderen Werken der Fantasy. Für die Spieler und ihre Charaktere in der Begegnung mit dem Setting eher irrelevant.
Dann kommt die erste Ableitung der Ur-Kräfte, das sind von ihnen nach ihren Prinzipien geschaffene Manifestationen im Multiversum, die aber schon erste Abweichungen enthalten. Diese Manifestationen sind immer noch reine Maschinen oder Programme, nichtmal KIs, sondern Arbeitsinstrumente. Dazu gehört Beispielsweise das Abyss (der Abgrund), das (der) aus einem Aufeinanderprallen zwischen CHAOS und BÖSE entstanden ist und Wesenheiten (2. oder 3. Ableitung) produziert, die von diesen Prinzipien angetrieben werden, oder die verschiedenen Himmel, die das GUTE hervorgebracht hat. D&D-Spieler erkennen die Ebenen. Bei mir sind das die gesinnungs-Ebenen.
Die zweite Ableitung sind die tendenziell denkenden Personifizierungen, kurz: die Götter und mächtigen Geister. Die sind immer noch nicht sonderlich frei, sondern folgen Direktiven aus den Ur-Gewalten, die sie geformt haben. Sie sind sowas wie die KIs, aber weil sie schon etwas raffinierter sind, sind ihre Verhaltensweisen, Handlungsoptionen und Verhaltenskodexe etwas von den Ur-Gewalten abgewichen und bereits vielfältiger. Hieraus ergeben sich die verschiedenen Ausprägungen des Guten, Bösen, Chaotischen und Rechtschaffenen in ihrer für die Sterblichen (4. + 5. Ableitung) zugänglichsten Form.
Die dritte Ableitung sind die Wesenheiten, die von den Göttern aus dem Material der Gesinnungs-Ebenen direkt geschaffen wurden, vielleicht auch die niedrigen Produkte der Gesinnungsebenen. Das sind Engel, Teufel und Dämonen, vielleicht auch Drachen und Feen oder ähnliche, magische Wesenheiten, die ihre Gesinnung angeboren haben.
Die 4. Ableitung sind dann Völker, die von den Göttern speziell auf der materiellen Ebene (wo kommt die her? Wahrscheinlich Abfallmaterial der Gesinnungsebenen, die vom Gleichgewicht verarbeitet wurden!) geschaffen wurden, um ihre Zwecke durchzusetzen oder ihnen (den Göttern) die Arbeit zu erleichtern bzw. sie (mit gebeten, Opfern usw.) zu nähren. Diese Ableitung ist aber schon ziemlich korrumpiert und teilweise aus Material des Gleichgewichts geschaffen, sie haben schon sowas wie einen freien Willen, durch den sie von den Gesinnungen abweichen können, sodass eher eine Disposition zu einer Gesinnung besteht, die vielleicht, aber nicht notwendigerweise von der Kultur des Volkes gefördert wird. Das könnten die Orcs/Goblinoiden sein, oder die Elfen, wahrscheinlich die Yuan-Ti oder andere sogenannte "böse" Gruppierungen.
Die 5. und möglicherweise 6. Ableitung sind dann denkende Völker, die keiner Gesinnungsbestimmung mehr unterliegen, sondern eventuell vom Gleichgewicht geschaffen wurden, oder sich von ihrer Bindung gelöst haben (ehemalige 4. Ableitung), Nachfahren oder Geschöpfe der 4. Ableitung sind usw. Da würde ich die Menschen, aber eventuell auch die Elfen, Zwerge und Orcs unterbringen. Unterschied zwischend er 5. und der 6. Ableitung ist, dass die 5. in Kulturen und Staatsformen/Organisationformen (so möglich) lebt, in denen einzelne Prinzipien der Ur-Kräfte stark durchschimmern, also z.B. Lawful evil Staaten oder brutalen, chaotischen Orcstämmen, wodurch eine gewisse kulturbedingte Sozialisierung erfolgt, wohingegen die 6. Ableitung in Staatsformen mit schwacher Gesinnungsprägung aufwächst.
Was besonderes sind dann ausgesprochen mächtige Individuen, die die Prinzipien "anzapfen", um sich ihre Kraft zunutze zu machen. Die kommen oft aus einer der unteren Ableitungen, sind aber so nah an die Ur-Kräfte herangerückt, dass sie vielleicht auf der Ebene der 2. oder 3. Ableitung stehen. Momentan bespiele ich das Setting von 13th Age, und das sind für mich die meisten Ikonen, speziell im bösen Bereich der Eroberer, die Dämonenanbeterin, der Leichnamfürst und der Orclord, vielleicht der Herr der Schatten - die drei (chromatischen) Ur-Drachen gehören für mich eher in den Bereich der dritten Ableitung. Diese spielen aber keineswegs in einem einzigen Team Evil, sondern jeder für sich hat seine Agenda. Ob die sich dabei selbst als Evil wahrnehmen, ist so eine Sache. Handlanger des Eroberers haben das bei mir entweder geleugnet oder bestenfalls eingeräumt, dass sie ein notwendiges Übel (necessary evil) sind, um die Dämonenanbeterin aufzuhalten und nur den finsteren Blutgöttern dienen, weil diese die Welt davor beschützen, vom Abgrund verschlungen zu werden.
Was bedeutet das praktisch für die Spieler? Es bedeutet, dass gesinnungsgebundene Kräfte tatsächlich langfristig gesinnungsgebundenes Verhalten erfordern bzw. die Ikonen niemanden unterstützen, der völlig häufig die von ihnen anerkannten Prinzipien mit den Füßen tritt. Es bedeutet auch, dass wir von irgendwelchen historischen Moralvorstellungen oder solchen, die eine gering technisierte, landwirtschaftlich geprägte und von einer oft religiösen und magisch begabten Aristokratie beherrschte Gesellschaft haben könnte, einfach absehen und moderne (zeitgenössische, bekannte) Menschenrechtsstandards als das Gute ansehen können, das sich eben nicht überall in der Praxis durchgesetzt hat und Helden braucht, die ihm zur Durchsetzung verhelfen.
Und sollten wir mal auf ein Problem stoßen, wo es Differenzen gibt zwischen dem, was ein Spieler als gut empfindet und dem, was der Spielleiter als gut empfindet, dann kann man das am konkreten Problem klären und notfalls sich darauf einigen, das die Frage von unterschiedlichen Ableitungen (Göttern, Ikonen oder ihren Auslegern, Interpreten, Propheten) unterschiedlich beantwortet wird.