Eines vorweg: Für eine solide Rezension reicht das noch nicht, ich bin noch zu weit von einem echten Praxistest entfernt. Ich denke aber, ich kann etwas mehr als einen ersten Eindruck vermitteln. Ich habe mir nämlich Mühe gegeben.
"The clay that woke" ist ein Rollenspiel von Paul Czege. Manch eine(r) kennt ihn vielleicht als Autor von "My life with master". Ich bin auf das Spiel über den "Indie RPG Award" aufmerksam geworden. Hier hat es 2014 den 1. Preis als "Indie Game of the Year" gewonnen.
"The clay that woke" ist ein Rollenspiel, in dem die Spieler Minotauren spielen. Diese Minotauren sind auf irgendeine mysteriöse Weise auf der Spielwelt erschienen. Man entdeckte sie im Lehm des settingdominierenden Flusses - daher rührt der Name des Spiels. Das Setting selbst kann man sich vielleicht als irgendein Fantasyimperium mit einer Mischung von Rom und Südostasien vorstellen. Die menschliche Zivilisation befindet sich in der dekadenten Phase und ist im Untergang begriffen. Zentrum des Spiels ist eine gewaltige Stadt, die langsam von dem sie umgebenden Dschungel überwuchert wird. Die dort lebenden Menschen haben ein Faible für Kunst, glauben an ihre Überlegenheit und haben die überraschend auftauchenden Minotauren versklavt. Die Minotauren sind stets männlich. Wenn sich eine menschliche Frau mit einem Minotauren einlässt und Nachkommen entstehen, sind das ausnahmslos wieder männliche Minotauren. Die Frauen werden hinterher stigmatisiert und müssen in Schande leben... offensichtlich üben die Minotauren aber doch eine gewisse Faszination aus, denn sie haben sich - zumindest eine Weile lang - durchaus vermehrt. Die Minotauren achten in der Gesellschaft auf einen ganz bestimmten Verhaltenskodex. Sie dürfen Ungerechtigkeiten nicht einfach hinnehmen, auf der anderen Seite aber auch nicht ihre Gefühle zur Schau stellen und die Namen von Frauen nicht laut aussprechen.
Neben der Stadt ist der zweite dominierende Schauplatz des Spiels der sie umgebende Dschungel - ein Ort der Gefahren und Wunder. Wenn Minotauren öfter gegen ihren Verhaltenskodex verstoßen haben, kann es passieren, dass sie in eine wilde Raserei verfallen und quasi in einer Art Amoklauf in den Dschungel stürmen. Der Vorgang besitzt manchmal auch ansteckende Wirkung auf andere Minotauren, wenn sie ihn beobachten können. Die menschlichen Herren der Minotauren versuchen solche amoklaufenden Sklaven zur Strecke zu bringen. Sollten die Minotauren trotzdem den Dschungel erreichen, trotzen sie dort dann einigen Gefahren und kehren im Überlebensfall wieder gefestigter in die menschliche Gesellschaft zurück.
Die in höchstem Maße originelle Spielwelt schäumt über vor bizarrer und faszinierender Ideen für Natur, Kreaturen, Gefahren, Gegenständen und gesellschaftlicher Besonderheiten. Die Beschreibungen sind nicht erschöpfend, sondern eher exemplarisch. Sie reichen vielleicht für ein knappes Dutzend Sitzungen, vermitteln Atmosphäre und erwecken den Eindruck, dass hier fast alles denkbar ist. Das Spiel rechnet aber mit etwas Eigeninput und ist letztlich auf eine Kampagne angelegt, in der entschieden wird, ob sich die untergehende Zivilisation noch einmal berappeln kann, oder endgültig vernichtet wird.
Das Spielsystem selbst ist narrativ geprägt. Über weite Strecken läuft das Spiel ohne harte Regeln. Die Spielerminotauren besitzen aber einen veränderlichen Vorrat von Markern unterschiedlicher Bedeutung (zum Beispiel für ihre Courage, ihr Ansehen, ihre Folgsamkeit dem Verhaltenskodex gegenüber, u. ä.). Der Spielleiter besitzt andere Marker (zum Beispiel für mögliche Verletzungen, für mögliche Fehlschläge, u. ä.). Gerät ein Spielerminotaur in eine kritische Situation, wird eine Art Lostrommel ("the Krater of Lots") zur Hand genommen. Spieler und Spielleiter geben ein paar Marker in die Trommel, es wird gemischt, dann zieht der betroffene Spieler vier Marker aus der Trommel. Je nach der Kombination der gezogenen Marker lässt sich nun auf einer Tabelle ein abstrahiertes Ergebnis ablesen, das im Folgenden spielerisch ausgestaltet werden muss. Da die Lostrommel gezielt mit bestimmen Markern gefüllt wird, ist das Prozedere kein reiner Zufallsmechanismus, sondern durchaus handlungsbezogen (Ergebnisse lauten dann beispielsweise: "Your efforts change the mind of the opposition"). Im Extremfall können Spielerminotauren dabei auch sterben. Der Mechanismus verbreitet ein wenig Orakelfeeling - was für mein Verständnis ganz gut zum Setting passt.
Es gibt gegen Ende der Regeln sogar einen kleinen, aber ganz interessanten Abschnitt zur Spielvorbereitung, in dem behauptet wird, dass man mit ein bisschen Übung und einer Stunde Vorbereitung leicht genügend Material zusammenbekommt, um zwei, drei Sitzungen durchziehen zu können. Nichts von dem, was sich hier findet, ist das übliche Spielleitertipps-Gewäsch. Die Anregungen sind vielmehr ziemlich detailliert und tragen auch ein wenig dazu bei, dass das Spiel eine besondere Atmosphäre verliehen bekommt.
Bevor ich diese Eindrücke mit einem positiven Gesamteindruck beschließe seien aber noch zwei Nachteile erwähnt:
- Der Text des Regelwerks ist absolut chaotisch aufgebaut. Es gibt keine Kapitel und kein System in der Abfolge der Texte. Es gibt auch kein Inhaltsverzeichnis im eigentlichen Sinne. Stattdessen gibt es eine Art Index, der aber auch relativ grob ist. Ich gehe davon aus, dass diese Unübersichtlichkeit mit Absicht so erzeugt wurde. Sie führt dazu, dass jeder Spielleiter für seine Runde aus der Vielzahl der Anregungen und Regeln sein eigenes Spiel entwickeln muss. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich dazu genügend Muße gehabt hätte. Glücklicherweise gibt es einen Fan, der wesentliche Regeln und Settinginfos schon mal zusammengeschrieben hat:
The clay that woke - summary by John Wilson Damit kann man einigermaßen umgehen. Trotzdem gibt es immer noch eine Hürde zu überwinden. Das Spiel sperrt sich gegen eine einfache Antwort auf die Frage, wie es eigentlich gedacht ist. Es will erarbeitet sein.
- Das Spiel ist teuer. Das liegt an Portokosten und daran, dass man neben dem Spiel auch noch knapp 100 Marker und dafür vorgesehene Sticker geliefert bekommt. Das Regelwerk selbst besteht aus knapp 130 Seiten und enthält ein paar hübsche, wirklich gekonnte Schwarz-Weiß-Illustrationen. Mit Markern, Stickern und Versandporto aus Amerika habe ich ca. 75$ bezahlt.
Ich habe die Regeln inzwischen einmal durchgelesen und John Wilsons Zusammenfassung halb durchforstet. Mein Lernprozess ist noch nicht abgeschlossen. Trotzdem kann ich schon sagen, dass das ein faszinierendes, narratives Spiel in einem unverbrauchten Setting ist. Ich würde mich freuen, hin und wieder auf Interessenten zu stoßen.