Der Fantasyrollenspieler wird traditionell mit klangvollen Namen und Genitiven verwöhnt. Zu erforschende Ruinen sind häufig "lost" oder "hidden" und klingen nach Geheimnis. Gräber sind diejenigen des Schreckens. Abenteuerschauplätze warten allenthalben mit verheißungsvollen Namen auf. Wer möchte nicht einen Wald ohne Wiederkehr betreten oder die Hügel des Grauens?
In Glorantha dagegen abenteuert man im Schutt. Das größte, faszinierendste Ruinenfeld am Abenteuerhorizont heißt "Big Rubble". Man stolpert in Glorantha öfter über Punkte, wo die Dinge selbst zum Namen werden. Der Bach vereinigt sich mit dem Strom und dem Fluss zum Bach-Strom-Fluss, der bei der Stadt Nochet in die Spiegelseebucht mündet. Der gigantische Felsquader, unter dem der Teufel erschlagen liegt und der nun aus der Wüste von Prax ragt, heißt "The Block" (das wurde bisher leider als Block und nicht als Klotz übersetzt, und ich fürchte, die Uhrwerk-Übersetzung wird es auch beim Block lassen -- Klotz fände ich einfach noch ein Stück witziger). Einer der Vulkane im südlichen Heiligen Land heißt schlicht Schlot. Ortschaften begnügen sich manchmal auch mit Adjektiven als Namen: Tiefer (Deeper), Allein (Alone) und Am Weitesten (Furthest).
Flüsse wie Euphrat und Tigris oder der Nil gelten irdisch ja gerne mal als Wiege der Zivilisation. Durch das östliche Prax fließt ein vergleichbarer Strom, der einen Teil der Wüste in fruchtbares Land verwandelt und eine Wiege des Wohlstands und der Zivilisation sein könnte, deshalb habe ich seinen Namen, Wiegenfluss, einfach so hingenommen und entsprechend interpretiert. Aber in Glorantha kommt man mit übertragenen Bedeutungen selten weit. Der Fluss ist nicht nach der Wiege benannt, die er metaphorisch vielleicht darstellen könnte, sondern nach den Wiegen, die ganz mosaisch (!) auf ihm ins Meer treiben. Bzw trieben. Diese Wiegen haben die Größe von gewaltigen Lastkähnen, und in ihren Bäuchen schlummern Riesenbabys. Sie wurden von ihren Rieseneltern in die Wiegen gelegt und auf die Reise zu einer Insel im Meer geschickt, wo sie aufwachsen sollen. Gierige Menschen haben dann prompt den Ort Wiegenklau an den Flussufern gegründet ... Biblisch, poetisch, rätselhaft und vielleicht auch ein klein wenig albern.
Viele traditionelle Fantasygestalten kommen ja aus der Mythologie oder Folklore, und man spürt ihnen eine gewisse ((tiefen)psychologische) Bedeutung an. (Kann man etwas anspüren?) Elfen, Zwerge, Drachen, Nymphen, Untote, Geister, Irrlichter -- in diesen ganzen Gestalten kann man, zumal bewaffnet mit Grimms Deutscher Mythologie und vergleichbaren Untersuchungen, Repräsentationen unterbewusster (oder auch bewusster) Prozesse erkennen. Wagner beispielsweise macht sich das in seinem Ring sehr deutlich zu Nutze. In eigentlich allen Fantasyrollenspielwelten, die ich sonst so kenne, werden diese Gestalten weitgehend ihres mythischen Gehalts beraubt zugunsten des Reizes, sie für bare Münze zu nehmen. Wie bei Tolkien sind Zwerge und Elfen eben wie die Menschen auch nur Völker mit Politik und Geschichte, mit leisen Anklängen an ihre mythische Bedeutung, aber eben vor allem als handfeste Protagonisten des Zeitgeschehens.
Glorantha macht an dieser Stelle eine Sache anders als alle anderen Fantasywelten, die ich kenne: Zwar werden auch hier sämtliche Erscheinungen aus Mythos und Märchen handfest und real. Es gibt Drachen, Elfen, Trolle und Zwerge. Aber sie behalten trotzdem und ganz dezidiert ihren mythologischen Gehalt auch in der Welt. Zwerge zum Beispiel sind die Geschöpfe Mostals und haben bis heute die Aufgabe, die Weltmaschine wieder in Ordnung zu bringen. Trolle haben Spielwerte, aber sie sind trotzdem Teil einer Mythologie, die immer noch wirksam und noch nicht zu Ende erzählt ist. Irgendjemand hat hier ja auch schon darauf hingewiesen, dass ihr ganzes Wesen und Verhalten Ausdruck der Runen ihrer Hauptgottheiten ist, ein Ergebnis geschichtlichen, mythologischen Geschehens. Und im Grunde sind die Menschen genauso eingebunden in dieses ganze mythologische Geflecht. Schöpfungsmythen kenne ich in Fantasysettings allermeistens nur als Kolorit und mit viel Glück einmal als Abenteueraufhänger für ein Szenario. Zwerge wurden irgendwann früher mal von Ingerimm geschmiedet, aber jetzt sind es halt irgendwelche Rostpöbbels mit seltsamen Sitten und unterirdischen Königreichen. Glorantha dagegen ist ein Setting, in dem die mythische Vorzeit nie zu Ende ging. Wie in der Gottzeit werden Zwerge auch heute noch in Kesseln fabriziert, damit sie sich um die Weltmaschine kümmern.
Ich bin weiterhin extrem fasziniert.