Ich will die Gelegenheit nutzen und noch eine kleine Abenteuerszene Montgomerys wiedergeben. Dann habe ich dargestellt, worüber ich mich freue, mehr liegt gar nicht in meinem Interesse. Es handelt sich um die einzige Szene in Montgomerys „Six seasons in Sartar“ Kampagne, in der der „Nandan“, der Mann mit der Erdrune, der mit dem Schmied Harvarr verheiratet ist, ins Rampenlicht tritt. In der Kampagne ist es so, dass eine Spielerfigur in der Schmiede aufgewachsen ist. Seine Kindheit und Jugend über hat er also zwei Väter gehabt: den Schmied Harvarr und dessen Ehemann Affar, den besagten „Nandan“ eben.
Drei Abenteuer lang hat sich der Jugendliche mit einer Gruppe Gleichaltriger auf eigene Faust um den Clan bemüht. Sie haben Erfolge erzielt, sich manchmal aber auch unnötig in große Gefahr gebracht. Es gab deswegen ein paar kleinere Bestrafungen, im Allgemeinen ist das Ansehen der Jugendlichen im Clan aber gestiegen. Nur die Spielerfigur, die in der Schmiede großgeworden ist, hat unverhältnismäßig viel Ärger bekommen. Harvarr war jedesmal sehr streng zu dem ungehorsamen Knaben.
Im vierten Abenteuer besucht eine Gruppe von Widerstandskämpfern gegen die Besatzungsmacht des lunaren Imperiums das Tal und verlangt, von den Jugendlichen zu einem alten Tempel gebracht zu werden, der versteckt in den Bergen liegt, den die Jugendlichen aber in einem ihrer vergangenen Abenteuer entdeckt haben. Bevor es losgeht, kommt es in der Schmiede zu folgender Szene:
„Am Abend schaut der Schmied Harvarr beim Abendessen seinen Sohn an. Seit den Ereignissen im Herbst haben Vater und Sohn kaum mehr miteinander geredet, das Erscheinen der Rebellen hat ihn allerdings tief getroffen. Eindeutig macht er sich Sorgen. Ist die Abreise der Kinder mit den Rebellen vereinbart worden, merkt man ihm an, wie unwohl ihm bei der Vorstellung ist, das Leben seines Sohnes in ihre Hände zu geben.
“Diese Leute sind gefährlich”, sagt er plötzlich, während er sein Messer auf den Tisch legt. „Ich habe sie mir genau angesehen. Für die Befreiung des Königreichs schrecken sie vor nichts zurück... und ihre Mitmenschen haben die Angewohnheit für ihre Anliegen ihr Leben hinzugeben.“
Damit erhebt sich der Schmied wütend vom Tisch uns stürmt aus dem Haus. „Lass´ ihn gehen“, sagt Affar zu seinem Sohn. “Er sorgt sich um dich... wie er es immer tut.”
Die Szene sollte ausgespielt werden, denn Affar hat sich entschieden, der Spielerfigur nun die Wahrheit zu erzählen. „In letzter Zeit hatte ich den Eindruck, dass Harvarr deinen Zorn fürchtet. Und ich denke, du solltest langsam den Grund dafür erfahren. Natürlich ist dir klar, dass du nicht mein leiblicher Sohn bist, auch Harvarrs Kind bist du nicht. Trotzdem fließt sein Blut in dir... sein liebstes Blut. Deine Mutter war Harvarrs Schwester.“
Affar entkorkt eine Flasche Wein und gießt sich und der Spielerfigur ein Glas ein. “Sie war eine Schönheit, deine Mutter... aber auch ein zerbrechliches Wesen. Ein empfindliches Wesen. Harvarr hat ständig versucht sie zu beschützen. Er hat sie vor der ganzen Welt beschützt. Aber als Kühnheim fiel, ist mit ihm irgendetwas geschehen. Sein Vater hatte eine Schmiede, die er nie übernehmen wollte. Harvarr wollte Krieger werden. Nach diesem schlimmen Tag in Kühnheim hat er sich dann allerdings sein Schwert geschnappt und ist zur Zwergenmine gezogen, wo er so lange vor dem Eingang gelagert hat, bis die Zwerge sich dazu bereit erklärt haben, ihm das Schmieden beizubringen.
Während er fort war, ist es geschehen. Seine Schwester – deine Mutter also – wurde vergewaltigt. Nach der Tat war ihr Geist verwirrt. Sie konnte über ihren Angreifer nicht sprechen und summte und trällerte nur noch vor sich hin. Als Harvarr davon erfuhr, kehrte er sofort zurück. Er opferte alle Rinder um über Wahrsagungen den Angreifer in Erfahrung zu bringen. Er schwor auch, den Täter umzubringen. Trotzdem erhielt er mehrfach dieselbe Antwort: Die Götter konnten nicht erkennen, wer das getan hat. Sie konnten es nicht erkennen! Harvarr wusste zunächst gar nicht, dass so etwas überhaupt möglich war.
Gordangar [der Häuptling des Clans] hatte zu der Zeit einen Gefolgsmann mit nach Hause gebracht. Es war der Gauner Keladon Blauauge. Wenn die Tat irgendjemandem zuzutrauen gewesen wäre, dann sicherlich Keladons Gott Eurmal [dem Gott der Gauner und Narren]. Harvarr hatte immer ihn im Verdacht, aber er konnte es nie beweisen. Es nagt noch heute an ihm.
Nach deiner Geburt nahm sich deine Mutter das Leben. Wir nahmen dich. Harvarr schwur, dich zu einem aufrechten und geradlinigen Mann zu erziehen. Er fürchtete, das Blut des Gauners Keladon könne in dir fließen. Er liebte dich, wollte aber nicht, dass du so wirst, wie der Mann, den er verdächtigte dein Vater zu sein. Diesen Teil deines Wesens hätte er am liebsten im Keim erstickt. Aus diesem Grund trifft es ihn immer so hart, wenn du ungehorsam bist. In meinen Augen müssen alle Jungen deines Alters ungehorsam sein. Auch Orlanth [der Sturmgott] soll ungehorsam gewesen sein. Harvarr aber sieht darin nur die Tricks eines Gauners wie Keladon.“
Als ich diese Szene gelesen habe, war ich so angerührt, wie schon sehr lange von Fantasy nicht mehr. Warum das? Ich glaube, das liegt erstmal daran, dass ich diese Art von Szenen ganz gut kenne: ich kenne den Jugendlichen, der darauf brennt, das Elternhaus zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen. Ich kenne auch den ängstlichen Vater, der schlecht loslassen kann und aus Hilflosigkeit manchmal unüberlegt und aus dem Affekt heraus reagiert. Und ich weiß auch, dass es in solchen Momenten gut ist, wenn jemand wie Affar da ist, der einfach ein Gespür für den richtigen Augenblick hat und mit großer Empathie ein Gespräch beginnt.
Aber ich mag die Szene noch aus anderen Gründen: Ich finde diesen Knaben mit den beiden Vätern, der hier von seinen wahren Eltern erfährt, eine bezaubernde Idee. Und die Darstellung Affars hat mich sehr für sich eingenommen. Hier gibt es einen Mann, der zwar anders ist, aber auch er tut das, was er am besten kann, um Clan, Familie und Hausfrieden zu bewahren. Am meisten beeindruckt hat mich, wie natürlich und selbstverständlich und ohne großes Aufheben er dargestellt wird. Das empfinde ich als Stärke des Textes. Er zeigt, wie selbstverständlich die Existenz solcher Menschen auf Glorantha ist. Niemand muss darum ein großes Wesen machen.
Ich übrigens auch nicht.