(Achtung, Mammutbeitrag - war ja irgendwie klar
)
Aus halbwegs aktuellem Anlass wird es mal wieder Zeit für eine Grundsatzbetrachtung eines althergebrachten Elementes des "klassischen", konventionellen Rollenspiels.
Wie in anderen Beiträgen aus dieser lockeren Betrachtungsreihe geht es mir hauptsächlich um Systeme, die eher verlaufsorientiert und nicht gar zu abstrakt sind.
In diesem Kontext ist das ziemlich selbsterklärend, weil man das Thema in abstrakteren und/oder narrativ geprägten Systemen sowieso nicht sinnvoll spielmechanisch verwursten kann.
Das geht bis hin zu abstrakten Systemen, die zwar eine eigene Kampfmechanik haben, aber z.B. nach einer vergleichenden Probe eine Liste von allgemeinen Effekten zur Wahl stellen - wenn in dieser Liste Dinge auftauchen, die in weniger abstrakten Systemen strukturell zum Grappling gehören (müssen*), dann ist Grappling sowieso nur Farbe.
Wer ab hier noch einige Schritte weiter vom Abstrakten weg hin zum Konkreten geht, kommt irgendwann in die Verlegenheit, sich für oder gegen Grappling-Regeln entscheiden zu müssen.
Gehen wir erst mal die Frage an, wegen der die meisten wahrscheinlich überhaupt hier rein schauen:
Wie und warum ist Grappling in so vielen Systemen dermaßen daneben?Grundlage der üblichen Fehler ist der, dass Grappling eine nachgeschobene Randüberlegung ist, i.d.R. weil man das unbestimmte Gefühl hat, dass man es unbedingt drin haben müsste - weil...öhm...weil...ach ja, weils das in echt™ auch irgendwie gibt
Von dieser Grundlage ausgehend lässt sich die Problematik mit absteigendem Schweregrad in folgende vier Kategorien einteilen (von denen oftmals die höherwertigen die anderen mit einschließen):
1) Die Grappling-Regeln produzieren Unsinn.
Geschickte Halblinge ringen mühelos Elefanten zu Boden und erwürgen Drachen. Bei zwei gleich großen, gleich starken Ringern kann niemals einer gewinnen - oder jedenfalls nicht in wenigen Kampfrunden. Ein Punkt Stärkeunterschied macht alles Würfeln überflüssig. Grappling ignoriert Levelboni. Uvm.
Das wiederum lässt sich aufteilen in
- Unsinn, von dem die Autoren meinen, er wäre völlig in Ordnung (weil sie falsche Vorstellungen davon haben, was da passiert bzw. passieren sollte),
- Unsinn, von dem einfach keiner merkt, wie blödsinnig er ist, weil die Randerscheinung Grappling nicht mal ansatzweise so intensiv getestet wird wie der Rest des Kampfsystems. Das können dann allgemeine Fehler sein oder solche, die nur in speziellen Konstellationen auftreten (z.B. durch ungewollte Talentsynergien u.Ä.).
Gar nicht mal so relevant ist in der Spielpraxis die Unterscheidung, ob Grappling durch solche Fehlkonstruktionen viel zu gut oder viel zu schlecht wird.
Ist es zu schlecht, wird es einfach nicht genutzt.
Ist es dagegen zu gut, wird es kurzerhand gestrichen, weil keiner Bock auf Grappling: The Neck-Cranking anstelle von gar heroischem Schwertgeklapper hat. Sprich, es wird ebenso nicht genutzt.
2) Die Grappling-Regeln sind konzept- und ziellos.
Das geht in eine sehr ähnliche Richtung wie 1), nur dass nicht ganz so schlimmer Blödsinn verzapft wird.
Grappling hat dann "nur" keine relevante Anwendung, weil man nur so weit gedacht hat, dass es Grappling in echt™ gibt und es daher auch irgendwie im Kampfsystem auftauchen muss.
Wenn man sich aber nicht fragt, welche Rolle es im Gesamtbild spielt, kann man es auch nicht sinnvoll gestalten.
Das führt i.d.R. zu Grappling-Regeln, die einfach deswegen nicht genutzt werden, weil ihre erfolgreiche Anwendung keinen relevanten taktischen Zweck erfüllt - entweder gibt es gar keine sinnvolle und praxistaugliche Wirkung oder sie kann auch anders (und dann i.d.R. zuverlässiger und/oder schneller) erreicht werden.
3) Die Grappling-Regeln sind umständlich, unnötig komplex, schlecht erklärt bis unverständlich und/oder OT wie IT zeitraubend.
Das ist eher das Ergebnis, wenn sich die Autoren zu viele Gedanken machen statt zu wenig. Dann kommen jede Menge Detailbetrachtungen auf, die a) im "normalen" Kampfsystem kein Gegenstück haben bzw. viel komplexer sind als jenes und gleichzeitig b) keine relevant größere Ergebnisbreite produzieren.
Sprich: Grappling ist in solchen Fällen viel mehr Aufwand für gleiche oder schlimmstenfalls sogar schlechtere Ergebnisse.
Ganz plakativ: Wenn man einen Gegner in durchschnittlich zwei Runden wahlweise erschlagen oder kampfunfähig machen kann, grappelt man nicht durchschnittlich vier Runden an ihm rum
Wer ein Beispiel für eine schlechte, weil umständliche und wenig intuitive Erklärung will, betrachte sich das D&D Grappling-Flowchart
4) Grappling ist unvollständig.
Bedeutet: Die Grappling-Regeln tun zwar, was sie sollen, aber decken manche Anwendungen überhaupt nicht ab.
I.d.R. liegt das daran, dass die Autoren einen zu engen Blickwinkel auf das Thema haben und am Ende stehen Regeln, die nicht alles umsetzen können, was die Spieler beim Thema Grappling suchen.
In weniger schlimmen Fällen gibt es diese Möglichkeiten anderswo im Kampfsystem (Klassiker: Entwaffnen). Das ist dann "nur" noch in eher detaillierten Systemen problematisch, wo man sich auf Grappling spezialisieren bzw. ordentlich Punkte dort versenken kann und am Ende nicht das kann, was man davon erwarten könnte.
Da kommt aber recht schnell der Punkt, wo man sich überlegen sollte, entweder Grappling spielmechanisch zu streichen (also auf Farbe zu reduzieren) oder die betreffenden Optionen/Manöver beim Grappling (und nur da) zu verankern.
Aus diesen Fehlern ergeben sich folgende Anforderungen:
Grappling-Regeln müssen sich sinnvoll ins Kampfsystem einfügen, d.h. einen klar umrissenen Anwendungsbereich haben und den auch ausfüllen können.
Sie sollen den selben Detailgrad und die selbe Grundmechanik haben wie der Rest des (Kampf-)Systems.
Und sie sollen vollständig sein in dem Sinne, dass sie alles liefern, was man von Grappling erwarten würde - speziell dann, wenn es diese Möglichkeiten nicht anderswo im System gibt.
Dementsprechend gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, warum Grappling radikal von der üblichen Spielmechanik abweichen sollte.
Egal, wie "normale" Angriffe abgehandelt werden (vergleichende Fertigkeitswürfe, Wurf gegen Schwellenwert etc. pp.) - warum sollte man das beim Grappling auf einmal groß anders aufziehen?
Ebenso hat man sich hoffentlich auch anderswo schon Gedanken gemacht, was passiert, wenn Fertigkeiten nicht vorhanden sind; entsprechend läuft das beim Grappling genau so.
Der "optimale" Detailgrad hängt vom restlichen System ab.
Als Beispiel für das untere Limit ziehe ich MongoTraveller 2nd heran - auch, weil hier in Sachen Verständlichkeit und Kürze der Präsentation kaum noch Verbesserungspotential besteht.
Dort wird eine vergleichende Nahkampfprobe gewürfelt und der Sieger sucht sich einen Effekt aus einer Liste aus (* (ja, das wird das selbe Sternchen wie oben
)).
Diese Effekte lassen sich nicht ohne Weiteres abseits von Grappling erreichen.
Man wird also nach kurzer Übung mit dem System meist vor der Probe schon wissen, welchen Effekt man erreichen will. Der große Vorteil dieser Methode ist die einfache Notation - andernfalls müsste man alle Effekte einzeln als Manöver aufführen, die aber alle nach dem gleichen Muster funktionieren.
Als oberes Limit halbwegs sinnvollen Detailreichtums sehe ich Systeme wie GURPS 4 an.
Hier verteilt sich Grappling möglicherweise auf mehrere Runden und wird recht kleinteilig nach ziemlich konkreten Einzelhandlungen aufgeschlüsselt - aber das gilt für andere Nahkampfbetrachtungen auch.
Interessant ist GURPS 4 hier vor Allem für die Obergrenze der Darstellung:
GURPS (und AFAIK sogar Technical Grappling als detailreichste, grapplingspezifische Erweiterung) teilt Techniken "nur" in Kategorien und listet entschieden
nicht einzelne, konkrete Techniken auf, die dann auch noch spielmechanisch unterschieden werden.
Natürlich könnte man das theoretisch tun, aber es liefert je nach Regelkonstrukt entweder keinerlei Mehrwert oder es schiebt das Ganze enorm in Richtung Spielerwissen/-fähigkeiten, also sozusagen "Grappling - Das Brettspiel"
Weiterhin spräche man hier schnell über Feinheiten, die ohnehin im "Würfelrauschen" der 3d6-Probe untergehen und damit sowieso nur narrative Bedeutung haben können.
Andersrum will auch bei d100-Systemen niemand detailliert und zeitraubend Entscheidungen treffen, die dann einzelne Punkte auf der 100er-Skala ausmachen.
*Welche Anwendungen bzw. Effekte gehören jetzt zum Thema Grappling, sprich wann ist das Ganze halbwegs vollständig?
Die zwei offensichtlichen Maßstäbe sind wie so oft Genre und die Realität.
Genre hat je nach Blickwinkel den Vor- oder den Nachteil, schnell so beliebig zu werden, dass ordentlich strukturierte Grappling-Regeln verzichtbar werden - weil wie schon erwähnt die "normalen" Kampfoptionen abseits des Grappling große Teile von dessen Nützlichkeit ebenfalls abdecken können, wenn man bereit ist, das eine oder andere Hühnerauge zuzukneifen.
Dann reicht der normale Grundmechanismus des Kampfsystems und der Rest ist Farbe.
Bleibt als "Lieferant" also erst mal nur die schnöde Realität und von dort ausgehend schaut man dann, was möglicherweise verzichtbar ist oder (auch) woanders verwurstet werden kann**.
1:1 von MongoTraveller 2nd geklaut (aber umsortiert):
- den Gegner zu Boden bringen (mit allem, was je nach System damit zusammen hängt)
- den Gegner werfen (und sich dabei von ihm trennen - als Abgrenzung zum Takedown)
- den Gegner entwaffnen
- unbewaffnet Schaden anrichten (über Schläge, Hebel etc. - muss je nach System feiner aufgeschlüsselt werden)
- kleine Waffen einsetzen (Messer/Dolche, Pistolen u.Ä.)
- sich vom Gegner lösen
- den Gegner bewegen
- ohne Effekt aus dieser Liste weiter grappeln (was zusammen mit den allgemeinen Effekten Festhalten inklusiver aller zugeordneten Zustände abdecken kann)
Dazu kommen noch die allgemeinen Effekte, die alle Teilnehmer automatisch erleiden, wenn sie grappeln. Das können Auswirkungen auf die Initiative sein, auf Bewegungsmöglichkeiten, auf Angriffe abseits des anstehenden Grapplings usw.
Als einfachen und radikalen Ansatz hat MongoTraveller 2nd hier schlicht: Du darfst nichts anderes tun als zurückgrappeln.
Und schon sieht das mit einem winzig kleinen Abschnitt im Regelwerk ziemlich rund und vollständig aus.
Was jetzt noch fehlt (i.d.R. in eher speziellen Situationen), lässt sich problemlos in die bestehende Grundmechanik einfügen (gewinne den vergleichenden Wurf, dann darfst du - Beispiele für die zulässige "Größenordnung" der betreffenden Aktion gibt es ja genug).
Wenn man das komplexer macht und dabei in eine der oben genannten Fehlerkategorien stolpert - zurück ans Reißbrett.
**Und umgekehrt, was nicht woanders verwurstet werden sollte, weil man sich damit jede Menge Unsinn und aus der Luft gegriffene Folgeregeln einfängt, die keinem nachvollziehbaren realen oder IT-Sachverhalt entsprechen.
Paradebeispiel: der abstrakte Zustand "Im Nahkampf". Der ist nämlich bei Licht betrachtet nur ein schiefes Hilfskonstrukt für andere Regeln, die selbst wieder nur Krücken (weil sich niemand ganz am Anfang überlegt hat, was genau das Kampfsystem überhaupt in welcher Form darstellt) oder "das haben wir schon immer so gemacht" sind, insbesondere der elende Gelegenheitsangriff.
Man "braucht" diesen Zustand nur, wenn man bei der Runden- bzw. Aktionsstruktur geschlampt hat und/oder mit seiner Hilfe verpeilterweise Sachen abbilden will, die zu Grappling, nicht aber zu allgemeinem Nahkampf gehören.
Als kleines Gedankenexperiment nehme man sich mal ein beliebiges Kampfsystem und schaue nach, was es zu Langwaffen "im Nahkampf" sagt.
Oft darf man diese im Nahkampf nicht einsetzen, weil...ja weil halt. Ist ja alles zu hektisch und da fuchtelt ja einer mit einer Klinge und so...
Ein aufgepflanztes Bajonett darf man aber sehr wohl einsetzen, weil...ist ja eine Nahkampfwaffe. Oder so.
Distanz, Hektik oder sonst irgendwas kann hier offensichtlich kein schlüssiges Argument sein, weil die Voraussetzungen für den Bajonetteinsatz umfangreicher sind als die Voraussetzungen für die Schussabgabe und letztere komplett mit einschließen.
Der Zustand "Im Nahkampf" ist also keine glaubwürdige Methode, um (u.A.) Schusswaffen einzuschränken und Nahkampfwaffen auf diesem Wege konkurrenzfähig zu halten.
Will man den Schusswaffeneinsatz verhindern, hilft es nicht, mit einer Nahkampfwaffe anzugreifen - da hilft nur Grappling und das verhindert bei Erfolg auch den Gebrauch größerer
Nahkampfwaffen, was wiederum für den Zustand "im Nahkampf" mal so gar keinen Sinn ergibt
Das ist so eine Stelle, wo Grappling sich "natürlich" ins Gesamtbild einfügen könnte - aber Grappling verliert einen großen Teil seiner Existenzberechtigung in dem Moment, wo man diese ganzen Effekte schon großteils bei der buckligen Hilfskonstruktion "im Nahkampf" untergebracht hat (und damit nebenbei noch ganz andere Zwecke verfolgt wie die Einschränkung von Schusswaffen im Vergleich zu Nahkampfwaffen, was gerade
keine inhaltlich schlüssige Begründung hat, sondern Atmosphäre-/Genrezwecken u.Ä. dient - und das sollte man dann auch offen an geeigneterer Stelle ansprechen, anstatt es unter diesem fadenscheinigen Deckmäntelchen der Plausibilität ins Kampfsystem zu schmuggeln).
Angesichts dieser Überlegung muss ich für meinen Teil nicht lange hadern, an welcher Stelle ich ausmiste, wenn ein System - wie das erwähnte MongoTraveller 2nd - verpeilterweise sowohl recht gelungene Grappling-Regeln als auch den überflüssigen Zustand "im Nahkampf" mit zugehörigen Sonderregeln nebeneinander postuliert
Anderes Beispiel:
Bekanntlich sind Messer und Dolche im richtigen Kontext ja gar nicht mal so schlechte Waffen. Nur versuchen viele Systeme, nicht den tatsächlichen, sondern
irgendeinen günstigen Kontext über absurd hohe Angriffsgeschwindigkeiten, Präzisionsboni und sonstige Irrungen und Wirrungen künstlich herzustellen, um Messer und Dolche im offenen Schlagabtausch konkurrenzfähig zu bekommen.
Der Knackpunkt ist aber, dass diese Waffen in einer Konfrontation mit anderen Nahkampfwaffen einen enorm schlechten Stand haben,
solange man nicht über den Grappling-Bereich spricht.
Will heißen: Im Grappling-Kontext lassen sich größere Waffen wie besprochen nicht sinnvoll einsetzen und
nur deswegen sind Messer und Dolche dort so gut - weil man sie
überhaupt nutzen kann.
Das ist derart offensichtlich und spielmechanisch so einfach abzuhandeln, dass mir nicht in den Kopf will, warum sich so viele Systeme hier dermaßen schwer tun - abgesehen von der schon angesprochenen Fehlzuordnung vieler Faktoren zum überflüssigen Zustand "im Nahkampf" und der resultierenden Ratlosigkeit, was man mit Grappling eigentlich noch groß anfangen will.
Wollte ich nur mal gesagt haben