Mein Kernproblem mit dem Gelegenheitsangriff lässt sich unter Aufmerksamkeits- und Handlungsökonomie zusammenfassen.
In meinen Augen ist der Gelegenheitsangriff so eine Art Beweislastumkehr für die Fälle, in denen jemand Dinge tut, die man ihm Nahkampf besser lassen sollte.
Also z.B. einen Trank vom Gürtel nehmen und trinken, eine Armbrust spannen oder auch einfach nur nicht kampfbereit an einem Gegner vorbei laufen.
Klar, da will man Negativanreize schaffen und "das geht einfach nicht" ist tendentiell ein bisschen doof.
Aber mir leuchtet nicht recht ein, warum der Gegner in solchen Fällen einen Angriff außer der Reihe geschenkt bekommen sollte*. Klar macht sich der andere verwundbar, aber er ist dann eben auch
nur verwundbar und angreifen muss man ihn trotzdem noch aktiv.
Beispiel:
Wenn z.B. A und B kämpfen und der hinter B in Nahkampfreichweite stehende C seine Armbrust spannt, kann B ihm einen Gelegenheitsangriff drücken, obwohl er ja eigentlich durch A gebunden sein müsste - aber A bekommt i.d.R. keinen Gelegenheitsangriff gegen B, obwohl der gerade seine Aufmerksamkeit und seine Waffe woanders hin richtet.
Das könnte man dann wieder einfangen, indem A doch einen Angriff bekommt, aber dann häufen sich schnell die Sonderregeln.
Speziell mit einer Battlemap gibt es dann auch mal kaskadierende Gelegenheitsangriffe u.Ä., wo doch diese visuelle Darstellung nur eine Annäherung ist und es im Verlauf einer Kampfrunde nicht darauf ankommen sollte, wer jetzt auf den halben Meter genau wo steht. Eigentlich sollte da ja alles in Bewegung sein, aber für die Spielmechanik wird dann eine Momentaufnahme zum Dreh- und Angelpunkt
Ähnlich stoße ich mit Gelegenheitsangriffen schnell an die Grenzen meiner Vorstellungskraft, wenn sie nicht begrenzt sind. Dann lassen sich ohne Weiteres recht kuriose Situationen aufziehen (etwa mehrere Gegner, die um einen Kämpfer stehen und
alle was auf die Nuss bekommen, wenn sie sich gleichzeitig zurückziehen
).
Und wenn man die Zahl der Gelegenheitsangriffe auf wenige oder gar einen begrenzt, fällt oft genug der beabsichtigte Negativanreiz für bestimmte Handlungen weg.
Da ist es mir lieber, wenn die "Beweis-" bzw. Handlungslast anders rum ist: Wer sich einen Trank reinzieht, hat dann etwa je nach System bis zu seiner nächsten Handlung keine Parade/keinen Verteidigungswert oder ist
hilflos, d.h. ist leichter zu treffen und ein Treffer ist direkt kritisch. Aber wenn ihn in der Zeit niemand angreift, ist das einfach egal.
Genau so bei der Flucht aus dem Nahkampf: Klar kann man dann hinterher und recht effektiv auf den Flüchtenden einschlagen, aber das muss man auch
tun - und dann macht man nichts anderes mehr.
*Wenn der Normalfall einer Kampfrunde ist, dass man sich in einem längeren Schlagabtausch beharkt mit allem, was dazu gehört, dann stellen sich mir die Fragen, a) warum dann nicht jeder Nahkampf eine vergleichende Probe ist, sondern nur derjenige mit "Aufschlag" treffen kann und b) ob man da nicht bei der Liste möglicher Aktionen etwas verpeilt hat, indem man z.B. den besagten Trank auf zeitliche und motorische Augenhöhe mit einer Runde Nahkampf gestellt hat.
Also: Eine gute Alternative zum Gelegenheitsangriff ist es, durch bestimmte Aktionen gegen Angriffe deutlich verwundbarer zu werden.
Oder Nahkampf (ggf. sogar Kampf allgemein) ist sowieso eine vergleichende Probe und wer etwas anderes macht als kämpfen, legt einfach seinen Teil der Probe nicht ab.
In meinem Shadowrun-Umbau habe ich es dann auch so gemacht, dass man standardmäßig (!) hilflos gegen Nahkampfangriffe ist und sich nur wehren kann, wenn man seine Runde für den Nahkampf verwendet (wer noch nicht dran war, muss für diese erste Gelegenheit zur Verteidigung einen Gummipunkt zahlen; wer dran ist, kann Nahkampf ansagen und sich den Rest der Runde gegen alles verteidigen sowie einen Gegner aktiv schädigen - letzteres kann man direkt in der eigenen Aktion machen oder hinauszögern, bis andere gehandelt haben).
Da ist dann ganz eindeutig: Wenn du deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtest, schlägt durch die Art der Erfolgsprobe ohne dagegenhaltenden Würfelpool des Verteidigers ein eventueller Nahkampfangriff brutal ein.
Andere Systeme brauchen den Gelegenheitsangriff gar nicht, weil die Kampfrunden kurz sind und die üblichen Aktionen, die einen Gelegenheitsangriff auslösen, so lange dauern, dass sie sich meist von selbst verbieten. Eben weil einer Aktion dann zwar kein Gelegenheitsangriff, aber mehrere "normale" Angriffe gegenüberstehen. Ebenso sind die Bewegungsweiten dann kurz genug, dass man auch ohne Gelegenheitsangriffe reagieren kann.