Um das Jahr 2000 herum war ich der größte deutsche Fanboy von BESM (Big Eyes, Small Mouth), das als "Anime"-Rollenspiel angepriesen wurde. Ich habe das Buch gesehen, gekauft, verschlungen, und die Frage, was das Spiel zum "Anime" macht, hat sich mir nie gestellt. Die Aufmachung hat für mich alles beantwortet, das Cover allein hat schon gereicht, noch bevor ich das knallbunte Innere gesehen habe.
Im Gegenteil, ich habe in beratenden Gesprächen in meinem Laden immer betonen müssen, "guckt an der Grafik vorbei, wenn ihr das nicht mögt, das Spiel dahinter ist ein tolles Universal-Regelwerk, das einige Sachen anders macht als GURPS (Genre-emulierende Skills, beispielsweise)".
Man kann Manga/Anime-Settings mit allerlei schon existierenden Systemen bespielen, und auf Manga-Conventions passiert das auch.
Ich habe ca. 2006/7 auch mal aufgeschrieben, welche Serien mit welchen Systemen gespielt wurden. Diese Info liefere ich hier nach, wenn ich das Notizbuch herankomme, in etwa 2 Stunden.
Wow, cool zu sehen, das sowas auf anderen Anime-Conventions immer noch stattfindet.
Ich habe (das dürfte jetzt schon gut 8 Jahre her sein, Wahnsinn...) lange Zeit, also eben auch mehrere Jahre lang, auf der
AnimagiC mit meinen Homies von der Zunft der Lahnsteiner Rollenspieler e.V. Rollenspiele in Animesettings angeboten. Dazu haben wir auch immer alle möglichen Rollenspielsysteme genommen und passende Animesettings draufgepflanzt. BESM war da für mich auch eine Zeitlang das Go-To-System (eben weil ich das Sailor Moon-RPG im Schrank stehen hatte).
Geleitet habe ich zum Beispiel (war viel über die ganzen Jahre, alles kriege ich nicht zusammen):
- Kingdom Hearts (BESM)
- The Legend of Zelda: The Four Swords (Dungeonslayers)
- Chrno Crusade (BESM)
- Die Melancholie der Haruhi Suzumiya (FATE)
- Final Fanatasy X (BESM)
- Final Fantasy Crossover (FATE)
- Samurai Pizza Cats (Wushu)
- Cowboy Bebop (Shadowrun)
- Avatar: The Last Airbender (PDQ... und ja ja ja, ist kein Anime, schon klar, schon klar; andererseits, siehe Dirks Kommentar: "in einem von japanischen Künstlern ausgeführten oder
inspirierten Zeichenstil"... und "Avatar" ist, wie z.B. "The Boondocks" auch, wesentlich Anime-inspiriert)
...und noch vieles mehr... wir hatten auch "High School of the Dead" im Angebot und "Naruto" und what have you...
Innerhalb der (J-Culture-)Community ist Manga und Anime ein himmelweiter Unterschied. So wie es bei uns Leute gibt, die nur Old School oder nur Storygames spielen, gibt es auf der anderen Seite Leute, die nur das eine oder das andere machen, oder zumindest Vorlieben haben. (Ich lese lieber Manga, aber ich liebe trotzdem einige Animes: Das Mädchen, das durch die Zeit sprang, Last Exile, Prinzessin Mononoke, Paranoia Agent, Garden of Words, Lodoss War...)
Für uns im Manga-Business ist das keine Haarspalterei - es limitiert in unserer täglichen Arbeit, was an Marketing und Pressearbeit möglich ist. Wir bringen z.B. Kalender zu großen Lizenzen heraus - Sailor Moon, Dragonball, Detektiv Conan, usw., die ausschließlich aus Anime-Artwork bestehen dürfen. Im letzten Jahr war es eine absolute Ausnahme (und ein 6er im Lotto), dass wir zu der Serie Blue Exorcist einen Kalender mit Manga-Artwork machen durften. Der Unterschied ist der: Anime-Artwork ist meist flächig koloriert (Cels) und hat anderes Character Design, und stammt von (oft ungenannten) Anime-Studio-Zeichnern, während der Manga-Kalender Farb-Artwork der tatsächlichen Manga-Zeichnerin hatte, der Urheberin der Serie.
Danke für die interessanten Einblicke. War mir so auch nicht klar.
Als Jugendlicher war ich tatsächlich eher Leser als Schauer. "Sailor Moon" ist im Übrigen ein sehr gutes Beispiel, um die Unterschiede zu verdeutlichen, da gibt es zum Teil krasse Unterschiede in Stil, Handlung und Tonalität bei den Serien. Das Sailor Moon-RPG ist definitiv ein Anime-Rollenspiel... was auch immer das heißt. Mit zunehmendem Alter bin ich dann mehr auf der Anime-Schiene geschwommen (Zeitfaktor!) und ich finde den Markt inzwischen auch zu unübersichtlich, um wirklich wieder ins Mangatum einzusteigen. Die Sachen von Jiro Taniguchi faszinieren mich aber zum Beispiel (und dieser Künstler nimmt ja durchaus auch den westlichen "Comicblick" mit auf).
Aber auch deshalb habe ich die Frage gestellt, für wen das "eine Suppe" ist.
Ist aus westlicher Non-Expertenperspektive immer schwierig. Ich halte ja zum Beispiel auch nicht damit hinterm Berg, dass ich großer "Exalted"-Fan bin. Und da stellte sich mir auch nie die Frage, ob das Anime ist oder nicht (dabei sind vielleicht nur 30% der Zeichnungen in den alten Regelwerken wirklich "anime-" oder "mangaesk", im Sinne der Kulleraugen- oder Big Ass Swords-Ästhetik... oder eben "Amano-esk", wie bei Melissa Uran). Für mich hat es gereicht, dass der Lead Developer im Videoclip sagt "Exalted is an Anime Fantasy Game". Damit war mir klar, wie ich es in meinem Oberstübchen zu visualisieren habe: Es ist eine bunte Angelegenheit, mit Emojis wie dem berühmten Schweißtropfen und üppig gezeichneten Hintergrundlandschaften wie denen von Studio Kusanagi.
Tatsächlich ist "Exalted" aber mehr ein "Dragonball" und "Naruto" und "Avatar" und "Gundam"-Rollenspiel... das war den Machern aber selbst nicht klar. Und ich würde sogar sagen: Es ist ein dezidiertes JRPG-Rollenspiel, gesehen durch eine westliche Brille. Es ist kein Zufall, dass "Tales of Symphonia" und "Suikoden" z.B. für mich bei der Belebung dieser Spielwelt wichtiger waren, als etwa das in den Inspirationen angegebene "Ninja Scroll".
Diese Vermischung von West- und Ost-Comictradition hatte ich aber tatsächlich auch schon vorher gesehen: Und zwar in den "Warlands"-Comics, wenn die noch jemand kennt. Die kamen auf der Höhe der Nullerjahre-Animewelle raus, waren zeichnerisch stark animegeprägt (um nicht zu sagen, "Lodoss"-geprägt), aber eben in Farbe und in Heftform. Und heute kann man diesen Stilmix auch in vielen anderen Kunstwerken konstatieren (etwa bei den moderneren Sachen von Blizzard). Ich finde "Warlands" da für "Record of Dragon War" tatsächlich eine lohnenswerte Inspiration.
Eine letzte Anmerkung noch, weil ich grade drauf komme: Ich muss mich wieder an mein Anime-Seminar in der Filmwissenschaft erinnern, wo wir einen Theoretiker/eine Theoretikerin lasen (komme nicht mehr drauf, wie der hieß; Susan Napier war es nicht)... da wurden dem Anime als übergreifender Mediengattung bestimmte Modi zugeordnet, die als übergreifendes Flair und Feeling, häufig auftauchten: Festival (im Sinne von laut, bunt, grell, fantastisch), Dystopie (im Sinne von sinister, dunkel, blutig) und Nostalgie (im Sinne von leise, rückwärtsgewandt, anachronistisch). Man kann von dieser Einteilung halten was man will, aber dieses nostalgische Element hat mir damals eingeleuchtet: Die unberührte, japanische Landschaft im Hinterland; alte Fotos; die Melancholie, die da drin steckt; das Auftauchen alter Traditionen in neuen Kontexten... wenn ich etwas nennen müsste, was typisch Anime (und vielleicht auch Manga) ist, dann wäre es dieses nostalgische Element, diese Rückwärtsgewandtheit... die sicherlich auch mit dem Kontext der Enstehung des Mediums nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen ist. Sogar japanische Pen&Paper-Rollenspiele wie "Ryuutama" oder "Golden Sky Stories" arbeiten enorm viel mit Nostalgie.