Das Regelwerk kommt an. Ich fange an zu lesen, Wort für Wort, von vorn bis hinten. Hier meine Erstleseerfahrungen:
Die Informationen zur Mythologie Gloranthas gefallen mir gut. Ich kann verstehen, dass das Setting die Zeiten überstanden hat und immer mal wieder hervorgekramt wird – kürzlich ja auch für 13th Age. Einige Ideen greifen tief in die Mythenkiste, andere sind schräg, was mir auch gefällt. Ich rechne nach, wie groß dieser im Wasser schwimmende Erdwürfel eigentlich ist und komme auf eine Entfernung von hier bei mir zu Hause bis in die innere Mongolei. „Groß!“, denke ich... und stoße kurz darauf auf den „Dragon Pass“, quasi die Kernregion des Spiels. „Schon eher überschaubar!“, denke ich... es folgt ein Hinweis auf die nächstkleinere Einheit, nämlich das Königreich Sartar, das in einem früheren Quellenband detaillierter beschrieben wurde. Und im Königreich Sartar liegen schließlich irgendwo die Ländereien des Clans der roten Kuh, das ist der Clan, der in „The coming storm“ und „The eleven lights“ im Zentrum steht. Das Zwiebelsystem nehme ich achselzuckend zur Kenntnis. Irgendwo muss man ja anfangen. Warum also nicht dort, wo die Region schon ausgearbeitet ist?
Dann lese ich die eigentlichen Regeln... die tatsächlich überschaubar zu sein scheinen. Aber die Lektüre wird dem Leser nicht leicht gemacht. Sie wird ihm vielmehr verdammt schwer gemacht! Das liegt an verschiedenen Dingen, die hier beim Namen genannt werden müssen, auch wenn´s weh tut:
1. Die Regeln sind sehr abstrakt formuliert. Es gibt zwar in Textboxen ein paar längere Beispiele, in denen relativ viele (aber durchaus nicht alle) der wichtigen Mechanismen vorgestellt werden. Nirgendwo wird aber darauf hingewiesen, welche Regeln in ihnen zum Einsatz kommen. In den Beispielen geschehen außerdem durchaus dramatische Dinge, für die es gar keine Regeln gibt. Das ist für ein Erzählrollenspiel zwar nicht unbedingt ungewöhnlich, aber die Eignung der Beispiele als Verständnishilfen für das System leidet darunter doch sehr. Ich kann hier längere – durchaus spannende – Spielhandlungen nachverfolgen, um aber entwirren zu können, wo in ihnen welche Regeln angewendet werden, muss ich das System eigentlich schon kennen. Das funktioniert also nicht, hier wären kürzere Beispiele direkt nach den entsprechenden Regeln weitaus sinnvoller gewesen.
2. Die Qualitätssicherung hat schlampig gearbeitet... wenn es überhaupt eine gab! Wären die Beispiele noch einmal mit den Regeln verglichen worden, hätten etliche (!) Fehler vermieden werden können. Wenn Situationen in Beispielen anders behandelt werden, als das in den ihnen ohnehin nur schwer zuzuordnenden Regeln erklärt wird, dann muss man sich wirklich fragen, wozu die Beispiele da sind. Ich lese das Regelwerk mit den im Netz gefundenen Errata zusammen, aber auch diese scheinen unvollständig zu sein und sind nur selten eine Hilfe.
3. Die Regeln lassen sich oft nur verstehen, wenn betrachtet wird, wie verschiedene Passagen aus dem Regelwerk zusammenhängen. Die Verweise auf derartige Zusammenhänge sind aber leider mangelhaft. Oft lese ich beispielsweise, dass man die Regel (a) noch durch (b) modifizieren kann, es wird aber nicht deutlich, wo (b) beschrieben wird, ja, oft genug wird noch nicht einmal deutlich, dass (b) eine Regel ist und sich an einer anderen Stelle im Regelwerk befindet. Um einigermaßen souverän mit den Informationen umgehen zu können, bedarf es mindestens zweier Lektüredurchgänge und eines guten Gedächtnisses.
4. HeroQuest ist ein Fertigkeitensystem. Eine Fertigkeit kann alles sein, was einer Figur in einer Konfliktsituation zum Erfolg verhelfen kann (also beispielsweise auch „Optimismus“ oder „Adliger“ oder „der Stab des Höllenfeuers“). Diese Fertigkeiten werden frei gewählt. Welche aber sind sinnvoll? Offenbar ist das System so gedacht, dass das in der Spielrunde aufgrund des Wissens über das Setting Glorantha bekannt ist. Es werden auch an einigen Stellen im Regelwerk beispielhaft einzelne Aspekte des Lebens der unterschiedlichen Völker und bezüglich der Runenmagie auch ein paar Götter und ihre Möglichkeiten dargestellt. Die Angaben sind aber sehr vage und die verbleibenden Lücken sind trotzdem noch riesengroß und teilweise wirklich grenzwertig. Zu was sind Schamanen mit ihrem Kontakt zu Geistern eigentlich in der Lage? Wie mächtig können Runenzauber, die sich die Spieler offenbar mehr oder weniger selbst ausdenken sollen, eigentlich sein? Ich habe nicht den Eindruck, dass für einen Einstieg das Setting das Problem ist. Das Problem sind solche offenen Regeln, für deren Ausgestaltung es zu wenig Hilfestellung gibt.
Natürlich kann man meine Bedenken zur Seite wischen und behaupten, die Lücken im Wissen um Kulturen, Lebensweise, Glauben und Magie ließen sich auch einfach durch improvisierte Festsetzungen füllen, schließlich ist das geflügelte Wort unter den Glorantha-Fans ja „Your Glorantha will vary“. Ich habe eigentlich gar nichts gegen herbeierzählte Spontankulturen. Ich wundere mich nur über einen 800 Seiten starken „Guide to Glorantha“, in dem alles Mögliche akribisch genau beschrieben ist, und über ein dazugehöriges System, das auf der anderen Seite sagt: „Wenn du über diese Kultur zu wenig weißt, dann denke dir einfach irgendwelche passenden Fertigkeiten dazu aus.“
Zum System selbst (soweit ich es verstanden habe): Die oben erwähnten Fertigkeiten bekommen einen Wert zugewiesen, können aber zusätzlich noch durch Spezialisierungen aufgefächert werden. „Adliger 17“ kann beispielsweise durch „Beziehungen zum Hof+1“ und „berittener Kampf+1“ aufgefächert werden. Beim normalen Schwertkampf gilt nun der Wert 17 (weil Adlige naheliegender Weise mit dem Schwert kämpfen können), beim Kampf zu Pferd gilt der Wert 17+1=18.
Im Konfliktfall wird geklärt, welches Ziel eine Figur erreichen will. Dann versucht der Spieler den Wert einer passenden Fertigkeit seiner Figur mit 1W20 zu unterwürfeln. Der Spielleiter ermittelt dann, wie schwierig die Probe ist und versucht den Wert dieser Schwierigkeit zu unterwürfeln. Gelingt sowohl Spieler als auch Spielleiter der Wurf, siegt der höchste (!) Wurf. Zum ersten Mal stutze ich ein wenig. Irgendetwas kommt mir außergewöhnlich vor. Ich weiß nur noch nicht genau, was.
Die erwähnte Basisregel gilt im Prinzip für alle Situationen und kann noch relativ variabel ausgebaut werden. Durch eine geschickte Erweiterung lassen sich Fertigkeits- und Schwierigkeitswerte beliebiger Höhe in das System integrieren, wodurch die 20er-Skala beliebig weit nach oben ausgebaut werden kann. Dadurch lassen sich auch sehr starke Figuren und anspruchsvolle Herausforderungen berücksichtigen. Durch eine andere Erweiterung lassen sich Entscheidungen durch mehrere Würfe schrittweise herbeiführen. Der Mechanismus lässt sich durch eine leichte Variante auch an Gruppensituationen anpassen, durch passende Vorbereitungen lassen sich zusätzliche Vorteile erzielen, und so weiter. In einem späteren Kapitel wird die Basisregel fast unverändert auf die Siedlung der Figuren übertragen. Dadurch lässt sich in festen Abständen überprüfen, inwiefern der Clan der Spielerfiguren gedeiht oder Schaden nimmt. Tatsächlich bestimmt der eine zentrale Mechanismus das gesamte System, was ich grundsätzlich erst einmal gut finde.
Nach und nach bekomme ich einen Überblick darüber, anhand welcher Kriterien der Spielleiter diese Schwierigkeit bestimmt, gegen die er würfelt. Sie ist von folgenden Faktoren abhängig:
- Wie schwierig schätzt der Spielleiter die Situation ein?
- Erfordert der dramatische Verlauf der Handlung eher Erfolg oder Misserfolg?
- Wie weit ist die Kampagne fortgeschritten?
Das Verfahren ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig... denn das ist auch schon alles. Erneut stutze ich und dann begreife ich ganz langsam und scheibchenweise: Keine Statblocks mehr für den Spielleiter... das ist doch eigentlich... super, oder? Jedenfalls ist hier wohl der Hauptgrund dafür zu finden, dass HeroQuest als narrativ gilt. Wenn es der dramatische Verlauf der Handlung erfordert, dass eine Figur Probleme bekommt, wird gegen eine hohe Schwierigkeit gewürfelt. Wenn es die dramatische Notwendigkeit der Handlung erfordert, dass eine Figur ein leichtes Spiel hat, wird eine niedrige Schwierigkeit gewählt. Noch sind mir die Konsequenzen nicht ganz klar. Ich lese erstmal weiter.
Im Regeltext wird mehrfach darauf hingewiesen, dass bei der Beschreibung der Folgen das Ergebnis mit dem angepeilten Ziel in Einklang gebracht werden muss. Ich versuche mir vorzustellen, wie das funktioniert... „Telrohir läuft aus dem Haus und kann gerade noch sehen, wie einer der Angreifer seine Tochter vor sich über das Pferd gelegt hat und mit ihr aus dem Dorf prescht.“ – „Ah! Telrohir rennt zur Pferdkoppel, springt auf eines der Pferde des Stammes, setzt mit ihm über das Gatter und galoppiert dem Entführer hinterher!“ – Würfe folgen. Telrohir erleidet einen complete defeat. Jetzt muss wohl das angepeilte Ziel mit dem Würfelergebnis in Einklang gebracht werden. – „Das arme Pferd scheint auf einen derart plötzlichen Aufbruch nicht vorbereitet zu sein. Es springt... aber nicht hoch genug und bleibt am Gatter hängen. Telrohir stürzt zu Boden und muss seine Tochter vorerst in den Händen des Feindes lassen.“ So etwa? Möglicherweise.
Das Regelwerk behandelt darüber hinaus noch Heldenquesten (transzendente Reisen von Spielerfiguren in die Reiche der Mythologien, wo sie mit den Göttern konfrontiert werden) und das Erlangen von Erleuchtung (wodurch Ordnung und Chaos recht distanziert als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden können – was in den Augen der Ordnungshüter bereits verdächtig ist), auch ein Bestiarium ist vorhanden. Diese drei Kapitel sind (fast) rein erzählerisch. Sie machen Vorschläge für besondere Abenteuerhandlungen und enthalten Beschreibungen und Beispiele, aber kaum konkrete Regeln im eigentlichen Sinne. Die Auswahl der Wesen, Monstren und Tiere im Bestiarium gefällt mir ausgesprochen gut. Und dann, als ich hier zum dritten Mal stutze und schon wieder beginne über die fehlenden statblocks nachzudenken, bekomme ich eine vage Vorstellung davon, wie HeroQuest im Spiel sein könnte: Es ist ein Spiel auf Glorantha, bei dem die Spieler auf ihre Werte würfeln können, der Spielleiter aber weder die Werte der Nichtspielerfiguren im Auge haben, noch irgendwelche gesteigerte Buchführung machen muss! Es gilt nur das, was erzählt wird und die Einschätzung des Spielleiters, wie erfolgversprechend die Angelegenheit ist. Ich merke plötzlich, dass das ganz schön dicht dran ist, an meinen Erzählspielerlebnissen, bei denen ich festgestellt habe, dass ich mich als Spielleiter plötzlich auf die Spielhandlung, die Darstellung und meine Mitspieler konzentrieren konnte... ich habe mit solchen Spielen schöne Erlebnisse gehabt. Letztlich ist das auch der Grund, warum ich mir zumindest erst einmal keine Runequest Materialien anschaffen werde... Werke, bei denen ich mir die ganzen stats wieder wegdenken muss? Muss erstmal nicht sein...
Das letzte Kapitel des Regelwerkes enthält ein paar Seiten mit sehr allgemeinen (und weitgehend überflüssigen) Ideen zum Verfassen von Abenteuern. Darauf folgt ein Beispielabenteuer. Wenn man die allgemeinen Tipps abzieht, umfasst das Szenario etwa knappe 8 Seiten. Obwohl es im Regelwerk keinen Namen trägt, wird es in der Glorantha Wiki als „Returning the goddess“ geführt. Das trifft es ganz gut.
Bei einem Fruchtbarkeitsfest wird die feiernde Gemeinschaft von Aggressoren überfallen. Das segensreiche Wirken der Fruchtbarkeitsgöttin bleibt danach aus. Offensichtlich hat sich die Göttin in die Unterwelt zurückgezogen. Die Spielerfiguren ziehen ihr nun hinterher, um sie zur Rückkehr zu überreden. Das Geschehen in der Unterwelt wird straff beschrieben, aber dennoch sind die wenigen Stichworte sehr stimmungsvoll und erwecken in mir beim Lesen einen sehr starken Eindruck vom Grauen, das dieser Ort beinhaltet...
Das Abenteuer ist relativ linear und einfach strukturiert. Der zur Verfügung stehende Raum im Regelwerk wird aber genutzt, um das Geschehen an unterschiedlichste Spielerfiguren und Kulturen anzupassen. Ein paar Passagen müssen vom Spielleiter selbst ausgestaltet werden.
Sollte bei dem Angriff beispielsweise die Göttinnenstatue gestohlen werden, müssen die Spielerfiguren sie aus Feindeshand zurückgewinnen, auch der ausbleibende gute Einfluss der Göttin auf das Dorfleben verdient eine Darstellung im Spiel, beides wird aber nur sehr knapp angedeutet. Dass die Spielerfiguren gleich im Einführungsabenteuer auf eine Heldenqueste ziehen, finde ich ziemlich überraschend. Das Abenteuer ist relativ gefährlich, ein Scheitern der Spielerfiguren ist durchaus möglich. In diesem Fall – so heißt es in einem Nebensatz – müssen die Spielerfiguren sich in der weiteren Kampagnenhandlung vielleicht eine andere Schutzgöttin suchen, ihr Stammesgebiet verlassen oder ähnlich gravierende Umwälzungen in Kauf nehmen. „Warum nicht?“, sage ich mir. Es wird deutlich gemacht, dass es gleich ums Ganze geht.
Insgesamt erfordert das Abenteuer aufgrund seiner Kürze noch etwas Arbeit für den Spielleiter, macht aber ansonsten einen stimmungsvollen Eindruck auf mich. Es ist vielleicht nicht der ganz große Wurf, aber ein guter Ausgangspunkt für eine Kampagne mit mythologischem Schwerpunkt. Vor allem aber macht es mich an: Es ist ein gewaltiger Sprung mitten hinein in die Mythensuppe.
Im Anhang finden sich Angaben zur Zeitrechnung, eine relativ ausführliche Ausrüstungsliste (mit Preisen für Leute, die das brauchen und eine simple Würfelmechanik für Leute, die keine Listen führen möchten), eine Aufstellung der wichtigsten Sprachen und die Tabellen des Regelwerks an einem Ort versammelt.
Nach der Lektüre beschließe ich etwas erschöpft, das Ganze einen Moment sacken zu lassen.