Aus aktuellen Anlässen...
Althergebrachten CP-Settings wird gerne spöttisch vorgeworfen, wie überholt sie doch wären - ohne eine umfassende Modernisierung ist da angeblich nichts mehr zu holen.
Mein Lieblingsbeispiel ist das altbekannte 1 kg-Telefon aus SR1. Hihi, wie blöd ist das denn?
Wenn man sich aber mal die Mühe machen würde, ins Buch zu schauen, würde man feststellen, dass sowohl die Kopfhörerversion als auch das Handgelenksmodell mit Aufklappbildschirm völlig gewichtslos sind. Soll ich da jetzt den gleichen Maßstab anlegen und postulieren, dass das ja die absolute Wundertechnologie sein muss oder merke ich an der Stelle vielleicht, dass die überflüssige Gewichtsangabe für ein völlig triviales, unbedeutendes Gerät mal eben in die Liste gerotzt wurde, anstatt eine durchdachte futurologische Aussage zu sein?
Auch sonst sind die üblichen Kritikpunkte vorhersehbar: Cyberaugen, -gliedmaßen, Riggersteuerung - gibts ja
alles heute schon. Klar. In den allerkleinsten Kinderschuhen und auf einem Niveau, dass es genau besser ist als nichts. Aber bestimmt nicht in einer Form, dass man sich freiwillig funktionierende Körperteile ersetzen ließe, was nach offizieller CP-Linie übrigens oft völlig triviale Eingriffe sind, die man mal eben machen lässt (was schon nicht mehr SF, sondern eher reine Fantasy ist).
Datenvolumen und Speicherkapazitäten sind natürlich auch lächerlich und müssen an moderne Verhältnisse angepasst werden, wobei man gleichzeitig unterschlägt, dass man da von Hardware und Anwendungen spricht, über die man schlicht keine sinnvolle Aussage machen kann und deshalb lieber komplett die Finger von konkreten Angaben lassen sollte, wenn einem an der Stelle Glaubwürdigkeit wichtig ist
Gleichzeitig ist ein Grafikbrecher (-blender?) wie CP2077 dann doch gefühlt topaktuell und
cutting edge, obwohl da im Grunde nur die Jahreszahl geändert ist und ansonsten fast alles 1:1 aus CP2020 stammt...
Politisch und sozial ist es genau das Gleiche. Statt sich die kritisierten Settings tatsächlich mal näher anzuschauen, wird einfach unreflektiert behauptet, dass es heute ja schon viel, viel schlimmer ist, als sich diverse CP-Autoren jemals ausdenken konnten (in Verkennung z.B. des Umstandes, dass das eine oder andere Element klassischen CP-Konzernverhaltens im 19. und frühen 20. Jahrhundert deutlich weiter ausgeprägt war als heute). Allgemeine Zustimmung reihum, da muss unbedingt die Schraube weiter aufgedreht werden...mit dem Ergebnis, dass dann solche Fluff-Texte und Teaser rauskommen:
Interface Zero 3.0If you don’t keep your filters updated hyper real can stop your heart. If you’re lucky. My sister got spammed so hard she joined a cult. Something about Nigerians. She didn’t make a lot of sense before she disappeared.
Want to get out? Sell yourself to a corp. Debt. Wage slave. Just remember, those nanos that keep you healthy? Once you sign on the dotted line they get control of them. Miss a payment and cancer eats your guts out. Painful but slow enough for you to get caught up; hopefully. The bottom line is all about percentages so not everyone makes it. And if you mess up at work they call you in sick. A week wishing you were dead is a pretty good teacher. Carbon 2185The 0.5% of the world control everything, with the majority of the population in constant never ending debt. You are expected to work 10 hours a day, 30 days a month in 2185.
You sign up for a job with a standard five year contract, and get paid at the end of it. Most people run a five year line of credit during this time, hoping their paycheck is enough at the end of it to clear their debts.
If you do not complete your contract in its entirety, you do not get paid anything. Ja, CP ist Dystopie und darf hier und da gerne mal was überzeichnen. Aber wenn man sich in so absurde Höhen aufschwingt, funktioniert das nicht als glaubwürdiges Setting, in dem "echte" Personen handeln (sollen). Das geht dann nur noch als kleiner Fluff-Brocken oder als Kurzgeschichte, aber ein schlüssiges Gesamtbild wird das so nichts
Der komplette "Die Konzerne sind böse"-Blickwinkel ist eine
Außenperspektive derer, die keinen Platz am Futtertrog bekommen haben. Aus der Innenperspektive ist ein Konzern eher das ultimative Helikopter-Elter und betreibt zwar
love bombing und sonstige emotionale Manipulation, aber grundsätzlich muss es den Betroffenen relativ gut gehen, sonst ist das ganze Konstrukt bis weit in die Unglaubwürdigkeit hinein überzeichnet.
Da könnte man sich vielleicht mal entscheiden, ob man
hire&fire bis ins Extrem denkt (was nicht funktioniert) oder die japanische Unternehmenskultur wie in klassischem CP (was sehr gut funktioniert). Beides zusammen geht nicht und mit Ersterem brechen andere Kernelemente des Settings weg.
Genau so daneben ist der Gedanke, dass die Konzerne die Regierungen "übernommen" hätten. Richtig ist: Die Regierungen sind zahnlos und handlungsunfähig geworden und die Konzerne haben gar kein Interesse daran, sich deren althergebrachte Aufgaben anzueignen (!) - jedenfalls nicht für die Allgemeinheit.
Die Folge ist eine Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und generell "rule of law", ein verstärktes Aufkommen nichtstaatlicher Akteure und eine allgemeine Balkanisierung auf lokaler Ebene bei gleichzeitig um sich greifender Globalisierung in größeren Zusammenhängen.
Diese Form der Dystopie muss man also deutlich von diversen (natürlich grundsätzlich nicht weniger dystopischen) Weltregierungskonzepten abgrenzen. Das geht - auch beim Thema "totale" Überwachung* - höchstens zusammen, indem der Anspruch zwar von Regierungsseite formuliert wird, aber keine realistische Umsetzungsmöglichkeit besteht.
*wo auch gerne mal z.B. behauptet wird, dass wir etwa Orwells 1984 längst überholt hätten und ähnlicher Kappes, obwohl ich jetzt niemanden wüsste, der vom schwarzen Google-Lieferwagen abgeholt wurde.
Da werden Anfänge, eher theoretische oder größtenteils aufs Virtuelle beschränkte Gefahrenpotentiale (unter völliger Missachtung des Umstandes, dass es durchaus Gegenmaßnahmen gäbe, die man in der eigenen Lebensführung aber geflissentlich ignoriert, weil sie einem dann doch zu unbequem sind
) mit den denkbar schlimmsten und effektivsten Diktaturen gleichgesetzt - mit der selben verqueren Schlussfolgerung, dass da für "modernen" Cyberpunk noch zwei bis achtzehn Schippen drauf müssen.
Nebenher werden noch zeitgenössische Randerscheinungen wie Flash Mobs und ähnliches social media-Gedöns völlig übersteigert, wobei gerne mal vergessen wird, dass man sich bei CP-typischer massiver Aufweichung des Gewaltmonopols zwei mal überlegt, ob man jeden x-beliebigen Aufruf mitmacht...
Vom Großthema Kriminalität gar nicht angefangen - wer da als Mitteleuropäer echte Parallelen erkennt oder CP gar von der Realität überholt sieht, dem ist echt nicht mehr zu helfen.
Man verschlimmbessert also für "moderne" CP-Settings ohne Notwendigkeit an politischen und sozialen Aspekten herum, weil man nicht weiß, was man an der alten Darstellung überhaupt hatte bzw. diese nicht richtig überblickt und aktuelle Randaspekte und Luxusproblemchen total überbewertet.
Bei der Technologie ist es ähnlich.
Man "muss" unbedingt jedes noch so unpassende SF-Konzept verwursten, weil das eben der aktuelle Stand der SF ist. Das betrifft insbesondere Upload- und Backup-Technologie, 3d-Drucker-Gewichse und anderen "singularitätsnahen" Kram , der für mich unverständlicherweise anscheinend recht flächendeckend als plausible und recht unmittelbar bevorstehende Entwicklung bewertet wird. "Muss" ein Near-Future-Setting also unbedingt haben (vom allgemeinen kitchensink-Faktor mal ganz abgesehen).
Dabei verkennt man unabhängig von einer technischen Machbarkeitsbewertung, dass spätestens der nächste Schritt dieser Elemente recht zwingend von CP wegführt und insbesondere für das CP-Rollenspiel Gift ist:
Post scarcity-Konzepte, funktionierende Sousveillance inklusive zugehöriger politischer Gestaltungskonzepte u.Ä. sägen schnell an den dystopischen Grundvoraussetzungen des Settings und das Großthema Singularität mit seinen Folgen reißt entweder den Spielfokus an sich oder ist verzichtbar.
CP-RPGs funktionieren definitionsgemäß nur bis unmittelbar vor dem Eintritt solcher Entwicklungen - danach spielt man schlicht ein völlig anderes Spiel.
Dazu gehört auch der Umstand, dass im Rollenspielkontext die faktische CP-Kernbeschäftigung* i.d.R. ist, Leuten für Geld (oder aus ähnlich guten Gründen) ins Gesicht zu schießen.
Überspitzt: Wenn es kein Geld mehr gibt und das Gesicht inklusive dahinterliegendem Hirn 100% ersetzbar ist, entfällt das ersatzlos oder man schafft unter mehr oder weniger großen Verrenkungen Umstände, mit denen das doch wieder möglich und sinnvoll wird (siehe Eclipse Phase). Das könnte man sich aber auch einfach sparen und wäre für Spielzwecke genau so weit.
Vielleicht könnte man ja zuerst überlegen, was man für ein Spiel machen will und dann die Technik passend postulieren, anstatt einfach alles auf einen großen, unsortieren Haufen zu kippen?
*Das, was CP (mMn übertriebenerweise) so an großartigem Tiefgang zugeschrieben wird, trägt nur einzelne One-Shots, aber kein längeres Spiel. Also die Fragen nach der Natur des Menschen oder bewusster Wesen an sich, mehr oder weniger clevere Sozialkritik und sonstige moralische Betrachtungen, die man mit CP fokussiert(er) aufwerfen kann.
Aus genau dieser Ecke kommt eine gefühlt recht große Zahl von CP-Rollenspielen der jüngeren Zeit: Erzählspiele, die den Schwerpunkt auf eben diese Gedanken legen. Die kommen dann aber offensichtlich ohne kleinteilige Technik- oder Sozialbetrachtung, oft sogar ganz ohne konkretes Setting aus, weil sie das ohnehin mit dem großen Hammer bearbeiten (und/oder das Nötigste an Setting on the fly erstellen).
Ein längerfristiges, weniger überfokussiertes Spiel kann diese Aspekte nur als Hintergrundrauschen oder als Nebenthema haben, sie aber nicht zum ständigen Kerninhalt machen - daher dann auch das, was salopp (und zu weit verkürzt) "D&D with guns" genannt wird.
Grundsätzlich ist es mir ganz recht, dass wieder einige klassische, herausforderungsorientierte CP-Vertreter jenseits des Platzhirsches SR an den Start gehen. Die sind aber in Sachen Setting im Hinblick auf o.g. Faktoren meist noch verstrahlter als eben dieser Platzhirsch (der z.B. beim Thema totale Überwachung speziell in der jüngsten Edition komplett ins Klo gegriffen hat).
Tl;dr:Ja, die Japaner haben nicht die ganze Welt aufgekauft und der saure Regen hat uns nicht alle fortgespült.
Trotzdem sind viele alte CP-Settings bzw. -Ansätze weiterhin als Spielfläche geeignet und müssen nicht ohne jedes Augenmaß und jeden Überblick "modernisiert" werden, indem man abstruse Zerrbilder aus irgendwelchem neumodischen Firlefanz konstruiert, sei das nun das, was in der zeitgenössischen SF grad so gemacht wird oder bis ins Extrem übersteigerte Fortführungen von zeitgenössischen (gefühlten) Problemen, die a) bereits in angemessener Form in CP angelegt sind und b) in der gedachten extremen Form längst ausgeprägte Gegenreaktionen erzeugt haben müss(t)en.
Viele CP-Elemente sind im Grunde eh zeitlos und nutzen technische oder politische und soziale Kontexte nur als Linse; da muss man nicht ständig ins absolute Extrem gehen - erst recht nicht, wenn das als nicht-parodistisches Spiel noch funktionieren soll.
Und andersrum kann man CP-Settings nicht organisch in deren Zukunft weiterdenken, ohne relativ schnell den ursprünglichen Fokus über Bord zu werfen und sich in Trans- bzw. Posthumanismus und Singularitätskram zu verlieren - an dem Punkt
können viele Fragestellungen von CP gar nicht mehr relevant sein, weil sie schlicht von der Entwicklung überrollt worden sind.
Auch wenn man sich die Fragen wohl schon denken konnte:
Wo kann CP-Rollenspiel eurer Meinung nach noch groß hin gehen - sowohl in Sachen Setting (und da speziell in Sachen Technik) als auch in Sachen Regelwerk?
Müssen/sollten die Settings auf der Stelle treten? Wo seht ihr eure persönliche Abrisskante, d.h. bis wohin ist es für euch noch CP und wann wird es etwas anderes?
Ist das Feld mit den alten Klassikern und den neueren Erzählspielen nicht weitgehend abgearbeitet?
Sollten neue CP-Spiele nicht zusehen, in ihrer Untersparte die bekannten Macken loszuwerden, anstatt ständig den Versuch zu unternehmen, das Genre in "moderner" Form neu zu erfinden?