Zu sagen, es ist doch eine "Alternative Relität" daher kann alles anders sein, ist für mich einfach eine Ausrede, um das Problem der sich weiterentwickelnden Realität unter den Teppich zu kehren.
Seh ich vor allem dann anders, wenn sich diese alternative Realität von unserer in Punkten der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheidet. In vielen Cyberpunk-Szenarien werden theoretische Eskalationen gesellschaftlicher Realitäten vorausgesetzt: Übervölkerung führt zu Megacities, Verschmutzung zu verstrahlter Natur oder Critters, Wirtschaftsmacht zu Konzerndiktatur. Schon das sind nicht unbedingt logische oder zwingende Weiterentwicklungen unserer Gesellschaft. Es müssen nicht einmal wahrscheinliche sein.
Insofern verkommt da schon die Diskussion was "realistische near future" ist zu einer wenig zielführenden Technik- und Wahrscheinlichkeitsdebatte.
Dazu kommen aber noch einschneidende Prämissen, die wieder auch nur eine theoretische Grundlage in Problemen der Gegenwart haben - oder, ganz anders, sich erst auf Probleme beziehen, die in einer
möglichen Zukunft auftreten könnten. Bürgerkriege, Armut- Krankheits- und Hungerepidemien, (neue) Standeskämpfe, digitale Blackouts.. Rebellionen von Arbeiterklonen, Aufstände von Weltraumkolonien, Zusammenbruch von nationalen Infrastrukturen.
Das sind alles Kernelemente von Cyberpunk - von Philipp K. Dick und William Gibson über Bladerunner zu moderneren Interpretationen und Vorlagen. Und ja, im Grunde sind das "Fantasy"-Elemente, die immer einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, das Genre von bloßer "Near Future" wegzuentwickeln.
Der Zugang zum Informationsnetz ist nur ein Detail. Das grundlegende Konzept von Matrix und Internet ist einfach dasselbe. Weltweit zugängliche Informationen und Kommunikation.
Da hängt noch viel mehr dran: der Wunsch einer dystopischen Realität zu entfliehen, indem man in eine fiktive Realität taucht. Vollständige Vernetzung jedes Lebensbereichs. Und der Zugang ist alles andere als ein Detail - das Neuralinterface is eine der ältesten Kernelemente des Genres und entspringt den Zukunftsphantasien der 80er und vorheriger Dekaden, als Fragen über Transhumanismus und dem Verschmelzen von Mensch und Maschine aufgekommen sind und im Trend lagen.
Das ist ein Genremittel, vergleichbar mit der gesamten Mutations-Science-Fiction der Atomära, aus dem die Monsterfilme entspringen. Ein zentrales Element des Genres, ja, aber völlig realitätsfremd.
Mal andersrum gefragt... wenn es diese Technologie in erschwinglich und relativ sicher gäbe... meinst Du nicht, dass sie dann nahezu jeder für den Internetzugriff benutzen würde?
Das ist die falsche Frage, meiner Meinung nach - denn im Grunde fragst du danach, ob die Menschen etwas benutzen würden, wenn es das schon gäbe. Viel eher würde ich fragen: gibt es eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die zur Entwicklung dieser Technik führt? Würde sich so eine Technik überhaupt entwickeln?
Und da muss ich sagen, dass ich da nur eine geringe Notwendigkeit sehen kann. Augmented Reality ist nur eine von vielen möglichen Abzweigungen, die von einem direkten Gehirn-Interface wegführen. Schon allein die gesundheitlichen Implikationen sind so unüberschaubar, dass nicht mal sicher ist, ob jemals sowas wie eine "relativ sichere" Technologie dieser Art erfunden werden könnte.
Wie gesagt, im Atomic Age hielten die Menschen mobile Atomreaktoren für die logische Weiterentwicklung ihrer Technologie und stellten sich eine Zukunft vor, in der vom Eisfach bis zum Auto alles atombetrieben wäre. Die Entwicklung der Atombombe und die Strahlenforschung haben dem ein dickes Rohr zwischen die Felgen geworfen. Es spricht nichts dafür, dass es unseren VR-Phantasien nicht genauso ergehen wird.