Die Sache hat mir jetzt keine Ruhe gelassen, vor allem die Aussage von Crimson King, er wäre erst zehn Jahre nach seinem Rollenspieleinstieg zum ersten Mal auf das Konzept "Story" gekommen. Ich weiß nämlich, dass ich schon als Teenie Rollenspiel immer damit erklärt habe, dass man Figuren einer "Geschichte" übernimmt, quasi "wie in einem Roman". Nun war ich ja als Teenis kein Genie, sondern musste das irgendwo hergenommen haben.
DSA1 (1984): "Sie agieren wie ein Schauspieler in einer imaginären Welt und bestimmen gemeinsam mit Ihren Freunden Verlauf und Ausgang der Geschichte."
BECMI-D&D Red Box (1983) -- aus der Werbung: ".. sort of like reading the same book, or dreaming the same dream. But it's a book that YOU can write, without putting a word on paper -- just by playing the D&D game."
AD&D Players Handbook (1978): "Each of you will become an artful thespian as time goes by." "[the players] are the pivotal actors and actresses in the fascinating drama wich unfolds before them."
AD&D DM Handbook (1979): "But [...] rewards are great -- [...] an opportunity to watch a story unfold and a grand idea to grow and flourish."
D&D Basic (Moldvay) (1981): "Each adventure is like a novel." "Sometimes I forget that D&D is a game and not a novel I'm reading or a movie I'm watching."
RuneQuest 2nd (1980): "The title of the game, RuneQuest, describes its goal." (Im Folgenden wird erklärt, wie die Queste nach göttlicher Runenmacht aussieht.)
Von daher wundere ich mich, dass die Aussage, beim Spielen von (D&D5 o.ä.) würde eine Geschichte erspielt/erzählt/erlebt, als irgendetwas Besonderes, Bemerkenswertes dargestellt wird, denn diese Aussage ist doch eigentlich der Standard seit Ende der 70er-Jahre. Auch schon bei Dragonquest lese ich die Erklärung, die SL sei unter anderem "the Storyteller", und es geht ständig darum, wie sich die "story" entwickelt, wenn die PCs Einfluss darauf nehmen. Alleine schon der so häufig benutzte Begriff adventure/Abenteuer implizierte für mich als Knabe damals schon "Story", denn die Abenteuer der drei ??? und von Old Shatterhand waren ja schließlich auch Stories. Und so war der Begriff doch auch gemeint.
Nun sagt Destroy all Monsters/Tümpelritter, dass zu einer Story ein character arc gehören sollte. Aber dann sind zum Beispiel die Dying Earth-Geschichten von Jack Vance auch keine Stories, denn da findet bei den Figuren keinerlei Entwicklung statt (ich rechne aufkommende Rachegelüste und keimende Liebe nicht unbedingt zur Charakterentwicklung, das sind ja eher impulsive Reaktionen auf Begegnungen, aber die Persönlichkeit wächst dadurch ja nicht in diesen Geschichten, sie verändert sich nicht). Auch in vielen Schwänken, Legenden, Sagen fehlt eine Charakterentwicklung, und es werden trotzdem Stories erzählt.
Mein Problem bei dem Ganzen ist -- ganz nebenbei und vollkommen untheoretisch --, dass ich noch nicht einmal einen qualitativen Unterschied zwischen "emergenter" Story und der narrativ erzeugten Story in allen Fällen erkennen kann. Tobias O. Meißner hat das ja sogar schon in der Literatur in seinem Paradies der Schwerter vorgeführt und gezeigt, dass "erwürfelte" Handlung ebenso eine Dramaturgie haben kann wie bewusst dramaturgisch konstruierte Handlung. Den Unterschied merkt leztlich doch keiner.
So, damit habe ich meine Theorieunfähigkeit wahrscheinlich endgültig unter Beweis gestellt.