Als sie über die Schwelle getragen wurde, waren die Augen der Leiche weit geöffnet. Sie war in allem für schuldig befunden worden und wurde niemals hingerichtet. Man hatte sie sieben Tage lang gefoltert, obwohl von Anfang an ein Geständnis vorgelegen hatte. Denn Agnes war eine Hexe gewesen. Sie hatte sich Satan voll und ganz verschrieben, hatte jede biblische Sünde begangen, hatte verführt, entführt, gemordet und Unschuldige auf unmenschlichste Weise auf ihrem Altar des Teufels geopfert. Und sie hatte zu allem gestanden. Sie hatte ihren Peinigern weitaus mehr erzählt, als diese zu hoffen gewagt oder auch nur bezweckt hatten. Und Agnes war voll des Hasses. Man hatte ihr tatsächlich den Wunsch gewährt, vor ihrer Hinrichtung einem Gottesdienst beizuwohnen. Die Hexe hatte dort aber einen Todesfluch über alle Kirchgänger gesprochen, den sie mit den folgenden Worten vollendete, um dann selbst tot zu Boden zu sinken: "... Und wenn ihr lange glaubt, alles sei vorbei, so sei's der Anfang erst!". Der Fluch wurde sehr ernst genommen, und man meinte ihn bestätigt, nachdem sich in den 7 Monaten nach ihrem Tod nicht nur den Pfarrer, sondern auch sechs weitere Bürger nachts in ihren Betten offensichtlich selbstentzündet hatten. Vielleicht war's ein Zufall, dass bald darauf die Sakristei brannte und mit ihr der kleine Archivraum, in dem auch die Dokumente über die Hexe Agnes aufbewahrt wurden. Auf jeden Fall geriet die Angelegenheit allmählich in Vergessenheit. Für Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte, bis schließlich letztes Jahr ein Doktor der Theologie aus Göttingen (oder Dresden) die Stadt mit klarer Absicht besuchte. Er hatte in den Archiven Oiginaldokumente über den Fall der Hexe Agnes gefunden und vor Ort, wozu auch Kirchenführungen gehörten, viele interessierte Zuhörer um sich geschart. Aus unersichtlichen Gründen jedoch hatte der Dozent am nächsten Tag offensichtlich in voller Absicht den Pfarrer mit einem Küchenmesser erstochen. Sein Geisteszustand schien desaströs, und er stammelte unentwegt, dass die Hexe Agnes ihn gezwungen habe, als er mit Blaulicht vom Tatort geschafft wurde. Das war vor einem Jahr. Seither ist Mansfeld nicht mehr zur Ruhe gekommen. Es kam vereinzelt zu nächtlichen Selbstentzündungen mit Todesfolge, aber viel häufiger passierte es, dass eine Person eine ihr auf die eine oder andere Weise vertraute Person völlig unvermittelt ermordete und daraufhin völlig verstört wirkte. Es mehrten sich Berichte von Schlafstörungen und schlimmsten Alpträumen von einer Pforte ins Licht, die doch nur in die Finsternis führte, und der eiskalten Stimme einer Frau, die von Mal zu Mal bedrohlicher und eindringlicher wurde. Einige der Betroffenen berichteten von regelrechten Drohungen und Befehlen, entweder selbst zu sterben oder einen genau bestimmten Mitmenschen zu töten. Es wurden umfangreiche Untersuchungen angestellt, Experten der Kriminologie und der Psychiatrie meldeten sich zu Wort, aber das Naheliegende wurde in der heute so aufgeklärten Welt völlig ignoriert. Die Tür der Toten, eine Bezeichnung, die auf ihre einstmalige Funktion hindeutet, wird heutzutage nach einem Gottesdienst als Seitenausgang benutzt. Wer weiß, was dann mit denen geschieht, die diese Tür beim Hinausgehen berühren?
Zur Inspiration:
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Die Harz-Geschichte 6 (1648 - , siehe dort auch das Kartenwerk)
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Mansfeld anno 1650