Ich mache mal eine Tangente zum Eingangsbeitrag auf, den ich ziemlich spannend finde, zu der Frage: Wie kommen wir überhaupt darauf, dass Rollenspiele bestimmte andere erzählende Formen (Film, Fernsehserie, Comic, Roman, Kurzgeschichte) "simulieren" sollen?
ich glaube nicht unbedingt, dass das ein Grundgedanke des Rollenspiels ist - vor der Adaption von Roman- und Filmwelten stand, wenn ich mich nicht irre, ja das eklektische Sich-bedienen an solchen Welten, ohne den erkennbaren Anspruch, dass das Rollenspiel Geschichten generieren soll, die atmosphärisch, inhaltlich, dramaturgisch oder sonstwie den Quellen entsprechen, bei denen man sich bedient hat (siehe Lovecraft- und Moorcock-Schöpfungen in D&D-Monsterkompendien).
Auch die frühen Adaptionen von literarischen Werken als Spielwelten wie Sturmbringer, MERS und Cthulhu haben ja gar nicht so sehr darauf abgezielt, die Erzählweise ihrer jeweiligen Vorbilder "erspielbar" zu machen (bei Sturmbringer trifft das vielleicht noch am ehesten zu, was aber wahrscheinlich auch eher an dem fast schon zufälligen Zusammentreffen des BRP-Systems mit Moorcocks Sword&Sorcery ohne Handbremse lag. Hat halt einfach gepasst ...). Allein der Cthulhu-Modus, als Gruppe in aufeinanderfolgenden Abenteuern gegen Mythosgeschöpfe zu Felde zu ziehen, passt ja nur ganz ansatzweise und im weitesten Sinne zu einigen wenigen (tendenziell schwächeren) Lovecraft-Geschichten wie "Das Grauen von Dunwich"; und MERS war trotz sorgfältiger Hintergrundausarbeitung einfach in so ziemlich jeder Hinsicht meilenweit neben jedem Herr-der-Ringe-Feeling ... man hat den Eindruck, dass beide Rollenspiele eigentlich ganz zufrieden damit waren, den jeweiligen Kosmos als Kulisse für etwas anderes, nämlich ein Rollenspiel zu verwenden, ohne es als Defizit zu empfinden, dass das Rollenspiel ("natürlich", könnte man fast schon sagen) ganz andere Arten von Geschichten hervorbringt. Man wollte gerne die Motive aus den Vorlagen, gerne auch in der Verdichtung zum geschlossenen Setting, aber darüber hinaus wollte man gar nicht unbedingt die Vorlage emulieren.
Andererseits ist das kein Wunder, dass das von vielen Spielern und Designern dann eben doch irgendwann als Defizit empfunden wurde. Heute scheint es mir fast schon Common Sense zu sein, dass ein Rollenspiel, das sich direkt von einem bestimmten Hintergrund inspirieren lässt, auch mithilfe seiner Mechaniken darauf abzuzielen hat, irgendwie ähnliche Geschichten wie die aus den Vorlagen bekannten zu erzeugen. Das führt auch gelegentlich zu tollen und beeindruckenden Ergebnissen (z.B. The One Ring) - aber ich glaube auch, dass darüber leicht vergessen wird, dass auch das Spiel in einer Welt aus anderen Medien oder mit den Motiven von anderen Medien reizvoll sein kann, ohne, dass man dabei das Rollenspiel als Vehikel begreift, um eine irgendwie "gleiche" Art von Geschichten hervorzubringen.
Als Beispiel mal Lovecraft: Call of Cthulhu und die meisten anderen Cthulhu-Rollenspiele taugen einfach nicht und niemals dafür, Geschichten wie die von Lovecraft hervorzubringen. Es gibt Versuche, dem Vorbild näherzukommen, wie Cthulhu Dark und als radikalsten Ansatz wohl Lovecraftesque, aber gerade bei letzterem merkt man, dass das nur sehr formalisiert und mit sehr strengen Regeln dafür, was wie erzählt werden kann, möglich ist. Das hat sicher seinen Reiz - aber ich würde behaupten, dass das tolle an den Lovecraft-Geschichten für's Rollenspiel eben gar nicht unbedingt ist, dass sie ein so tolles Vorbild für gemeinsames spielerisches Geschichtenerzählen darstellen, sondern, dass sie ein lose verknüpftes Bestiarium (den "Cthulhu-Mythos") präsentieren, dass als Rollenspiel-Material einfach unschlagbar großartig ist. Man will im Spiel vielleicht gewisse atmosphärische und motivische "Beats" aus den Lovecraft-Geschichten wiederfinden (eine Flucht aus Innsmouth, den daherplappernden Alten irren), aber es geht bei CoC sicher in den meisten Fällen nicht darum, gemeinsam eine Lovecraft-typische Geschichte zu erschaffen.
Aber irgendwie hat sich trotzdem die Vorstellung weitgehend durchgesetzt, dass ein Rollenspiel erfolgreich ist, wenn es gelingt, mit ihm Geschichten zu erzeugen, die den erzählerischen Konventionen nicht nur bestimmter Genres, sondern auch bestimmter anderer Medien (meistens Film, Fernsehserie oder Roman) entspreichen - und scheitert, wenn es nicht dazu geeignet ist.
Was mich zu den Universalsystemen Fate und Savage Worlds bringt, die auf der Suche nach einer Antwort auf der Frage, was denn die "Universalkonventionen" sind, die eine im Rollenspiel erzeugte Geschichte erfüllen sollte, tendenziell beim Actionfilm bzw. bei der actionlastigen Fernsehserie landen. Das liegt wahrscheinlich deshalb nahe, weil Actionfilm und typisches Rollenspiel eine Strukturierung um Set-Pieces, insbesondere gerne Kampfszenen, gemeinsam haben. Beide Systeme schließen daraus, dass Actionfilm und Actionserie dem "natürlichen Erzählmodus" des Rollenspiels entsprechen.
Ich halte das ehrlich gesagt nicht für einen funktionalen Zusammenhang, sondern für einen Zufall. Meine Erfahrung im Rollenspiel ist, dass ein Wechsel zwischen den Arten der Konzentration (auf Regelmechanismen, wie vor allem im Kampf, auf schauspielerische Elemente, auf gemeinsame Plotentwicklung), die man jeweils aufrechterhalten muss, einfach wichtig ist, um sich nicht zu erschöpfen. Ich kann nicht drei Stunden lang "schauspielern" oder mich drei Stunden lang auf ein taktisches Spiel konzentrieren, aber ich kann drei Stunden lang ein bisschen schauspielern, ein bisschen Taktieren, ein bisschen an einer Story basteln und ein bisschen plaudern. Dass das, was dabei rauskommt, im Rückblick wahrscheinlich noch am ehesten wie ein Actionfilm aussieht, heißt aber nicht, dass eine Rollenspielerfahrung je besser wird, desto mehr sie die Dramaturgie eines Actionfilms nachahmt.
Zusammenfassend: Ich liebe die Spielerfahrung von Fiasko oder Der Eine Ring (allerdings durchaus auch die von MERS); Savage Worlds und Fate können mir gestohlen bleiben (nicht, weil sie schlecht wären, aber weil ich mich nicht für das Ziel interessiere, Actionfilme zu emulieren) - so oder so fände ich es insgesamt aber gut, sich auch dann und wann mal klar zu machen, dass Rollenspiel überhaupt keine erzählweise andere Medien nachahmen muss, um gut zu sein. Nur, weil das, was da erspielt wurde, niemand als Roman lesen oder als Film sehen wollen würde, heißt das nicht, dass es Mist ist - im Gegenteil zeigt es vielleicht, dass das Rollenspiel eben Geschichten hervorbringen kann, die nur im Medium des Rollenspiels gut funktionieren und nicht als Roman oder Film (genauso, wie es eben Romangeschichten gibt, die nicht als Film funktionieren oder Filme, die sich nur schwer in einen Roman übertragen ließen).
So, eigentlich wollte ich auch noch was dazu unterbringen, warum ich das M.R. James-Rollenspiel Casting the Runes leider aus eben solchen Gründen für eher missglückt halte, aber egal ...