Nach meinem letzten Stand hat die Kreativität der Szene gerade einen schweren Einbruch erlitten: Nachdem bisher geschätzt jeder 2. an irgendetwas gebastelt hat, hat AD&D2 die Szene mit mehr Splats geflutet als einer lesen kann und ein Haufen anderer Leute sind zu neuem , wünsch-dir-was-Geschichtenerzählen gewechselt, der sich von solchem vorgefertigten festlegenden "Ballast" befreit hat.
Du machst hier aber auch ein paar Voreinnahmen, die sich nicht halten lassen.
AD&D2 ist jetzt 32 Jahre(!) her, das wird wohl kaum der letzte Stand sein. Mit "Wünsch-dir-was-Geschichtenerzählen" (ein neutralerer Begriff ist dir nicht eingefallen) ist, nehme ich an, nur ein kleiner Teil der narrativen Spiele gemeint. So Sachen wie "Fiasco" vielleicht oder in sich geschlossene Spiele wie "Western City" oder "Dialect" oder so. Letzteres ist tatsächlich ein Impro-Spiel für das man KEINE Vorbereitung in irgendeiner Form braucht. Die meisten Rollenspiele, die Fokus darauf legen, dass Spieler sich Inhalte ins Spiel "wünschen" können (ich nehme an du meinst hier das vielzitierte "Faktenschaffen" und gemeinsame "Scene Framing") bedürfen durchaus der kreativen Vorleistung in Form (selbst-)geschriebener Szenarien oder Settings oder Regelstückchen.
Die Forge selbst (zwischen der und AD&D2 selbst gut 15 Jahre liegen) war zwar irgendwo eine RPG-theoretische und -philosophische Bewegung, aber eben auch vor allem eine Community, wo Rollenspieler kreativ Rollenspiele gebaut haben und andere dazu ermutigt haben, das auch zu tun. Die "Wünsch-dir-was-Geschichtenerzählen"-Bewegung hat vielleicht nicht an komplexen Weltensimulationen gebastelt, aber sie hat zahlreiche neue Spiele gebastelt. Das Prinzip trägt sich im Übrigen bis heute weiter in die "Hacking"-Szene, die man zum Beispiel von der PbtA-Community und den Kickstarter-Indies (ZINE-Quest etc.) kennt. "Beak, Feather and Bone", ein veritables "Wünsch-dir-was-Geschichtenerzählen"-Spiel, hat vor Kurzem sogar einen eigenen Hackathon durchgeführt, wo ein gutes Dutzend Fanerweiterungen rausgekommen sind. Tatsächlich bieten die meisten Impro-Spiele von sich aus APIs, um die eigenen Inhalte anzuklemmen. "Bluebeard's Bride" zum Beispiel hat mit dem "Book of Rooms" ein Buch mit vorgefertigten Räumen rausgebracht, so nach dem Motto "Seht her, eigentlich sollt ihr die improvisieren... aber wenn ihr das nicht wollt, hier ist ein Format, nach dem ihr sie vorbereiten könnt." Das ließe sich im Bereich der Indie-Games beliebig fortsetzen.
Von der hochgradig kreativ fruchtbaren (nu)OSR-Szene, die diverse Berührungspunkte zur post-forge-Indieszene hat, fange ich gar nicht erst an.
Kann natürlich auch sein, dass du mit "Wünsch-dir-was-Geschichtenerzählen"-Spielen bereits die Storyteller-Games der 90er meinst. Und auch da wäre deine Datenlage lückenhaft. Die WoD-Systeme hatten gerade mit dem Community-Peak der frühen Nuller-Jahre, eine äußerst aktive Community, die überall ihren Scheiß veröffentlicht hat. Für nicht wenige war das damals ein Sprungbrett, um irgendwann selbst für die Studios zu schreiben, für die sie vorher Faninhalte erstellt haben. Als Beispiel für eine fette Community, die an ihrem Spiel herumgebastelt hat und passioniert Content produziert hat, fiele mir zum Beispiel das
"Inofficial Exalted Wiki" ein, an dem ich mit 17, 18 damals selbst mitgewirkt habe. Die kümmerlichen Reste der alten WoD-Community publishen heute auf dem "Storyteller's Vault" bei DriveThru.
(Und tatsächlich sind ja gerade die story-zentrischen Spiele sehr vorbereitungsintensiv zum Teil – da ist man über Content von außen dankbar.)
Meiner bescheidenen Meinung nach: Auch heute bastelt "die Szene" nicht mehr und nicht weniger als vorher (prozentual gesehen). Und es gab auch früher schon Spieler, die "nur" gespielt haben und nichts eigenes gebastelt haben. Und von denen, die basteln, veröffentlicht auch nur ein Teil, sodass viele zwar basteln, dabei aber unsichtbar bleiben. Und sollte sich tatsächlich die absolute Bastler-Anzahl gesenkt haben, dann liegt das wohl daran, dass die Szene heute deutlich vernetzter ist. Früher, zu Zeiten von Fanzines und Mailinglisten, war ein Hack von meinem Lieblingssystem auf mein Lieblingssetting nicht nur einen Klick entfernt: Das musste ich wahrscheinlich selbst bauen (parallel zu 10 anderen Leuten, die ebenfalls irgendwo in Deutschland grade am selben Hack rumzimmern, von denen man aber einfach nichts wusste).
Wer Rollenspiele spielt, der kann vielleicht mit einem Minimum an kreativem Output ausbommen. Wer aber Rollenspiele leitet kommt außer in den nischigsten Nieschensachen oder den mit bis zum Rand mit vorgefertigten Abenteuergräbern vollgestopften System-Titanen um eine gewisse kreative Eigenleistung in Schriftform eigentlich nicht herum.
Und was AD&D2 angeht: Ein Splat mehr oder weniger schadet nicht, wenn's eh schon so viele gibt. Und das haben sich viele Kreative gedacht.
Also ich habe das Gefühl, in der Ausgangsfrage steckt schon viel Missverständliches: Fragst du danach ob Leute basteln oder ob Leute etwas basteln, was sie zu veröffentlichen gedenken?
Ich schreibe grade als Redakteur am Settingteil eines Rollenspielbuches, feile gedanklich an meinem eigenen Setting, hacke diverse Settings auf mein Lieblingssystem (7th Sea und Exalted auf Fate) und plane ein bisschen an Content rum, der mal auf den "Storyteller's Vault" soll. Plus: Ein bisschen Kartenzusammengeklicke und grafische Arbeiten. Ich hab gut zu tun.