Aber was für neue Themen gibt es im Jahr 2022, gibt es schon quasi die "nächste Generation" Dystopie, die nicht nur unsere heutigen Standards ins Extrem treibt (wie Qualityland von Kling z.B.) sondern da auch etwas in neue Richtungen denkt? Welche neuen Geschichten können da erzählt werden oder wurden erzählt, von denen ich nur nichts mitbekommen habe?
Große Dystopien gehen im Grunde nur in zwei Richtungen:
Erdrückend starre soziale/politische Systeme oder Chaos.
Ersteres findet sich in verschiedenen Ausprägungen schon deutlich vor Cyberpunk (mit den bekanntesten Vertretern 1984, Brave New World und Wir - über diese Vorreiter kommen auch noch so scheinbar zeitgemäße moderne Dystopien nicht hinweg, nur die Ästhetik und die Paraphernalien sehen ein bisschen anders aus), zweiteres umfasst dann neben "klassischen" balkanisierten Cyberpunk-Ansätzen auch das weitgehende oder komplette Zerfallen der Zivilisation.
Aus dieser Flughöhe sind die angeklungenen Themen also recht zeitlos.
Ich werfe mal aus zwei Posts zusammen:
- entgrenzter Kapitalimus mit Konzernen, die quasi offen Staatsgewalt ausüben
- massive Schere zwischen Arm und Reich, die sich in darbenden Unterschichten widerspiegelt
- ein enttäuschtes Versprechen, dass Technik das Zusammenleben der Menschheit verbessert
- ein Aufstand der in diesem System Lebenden gegen das Establishment
- Überwachung/Der gläserne Mensch
- Manipulation der Meinung
- Soziale Netze mit all ihren Auswirkungen
Da muss man schon in die Feinheiten zoomen, um eine moderne Perspektive in Abgrenzung zu klassischem Cyberpunk zu entwickeln. Z.B. in der Richtung, dass Konzerne heute "nur" die entsprechenden Regulierungen manipulieren oder umgehen und gar kein Interesse an "richtiger" staatlicher Macht haben (ist ja bei Licht betrachtet auch Quark, weil da zuallererst mal eine ganze Menge lästige
Pflichten dranhängen) - was auch damals schon die bodenständige Perspektive gewesen wäre, aber man wollte ja ein bisschen auf die Kacke hauen
Ansonsten ist aktuell gerade beim Thema Massenmedien zwar so einiges in Bewegung, aber ich tue mir ehrlich gesagt ein bisschen schwer, aus dieser Situation eine neuartige dystopische Entwicklung abzuleiten - dafür müsste ich erst einmal einen ins Extrem gedachten Endpunkt festlegen, der dann entweder die gesamte aktuelle Entwicklung zurücknimmt (also genau das Gegenteil von dem ist, was wir versuchen wollen) oder der am anderen Ende das gesteckte Themenfeld verlässt und völlig andere Betrachtungen aufwirft (weil ein totales Zersplittern jeder halbwegs massentauglichen Kommunikationsform auch politische Auswirkungen hat und man dann über "echte" Tribalisierung & Co. nachdenken muss - das verlässt das Thema Massenmedien und man landet ziemlich flott wieder genau bei der Reduzierung staatlicher Bedeutung und allgemeiner Balkanisierung wie im klassischen Cyberpunk...).
Es ist also kurz gesagt wie immer in der SF:
Die Themen an sich ändern sich nicht groß, "nur" die zugehörige Ästhetik, der zugrundeliegende Zeitgeist und das damit verbundene Lebensgefühl.