Systemdesigner stehen irgendwann von der Frage, welche Rolle der Zufall bei der Erstellung (und ggf. Entwicklung) von Charakteren spielen soll. Aber auch sonst ist im Tanelorn zu beobachten, dass sich an dieser Frage häufig die Geister scheiden. Ich vertrete die These, dass es in der Geschichte der Rollenspiele einen Trend von mehr Zufall (z.B. 3d6 in order bei OD&D für Attribute und HP auswürfeln) zu weniger Zufall (z.B. Standard Array & Point Buy für Attribute und fixe HP bei D&D5) gibt. Aus meiner Sicht ist (bzw. wäre) ein solcher Trend begrüßenswert, denn es gibt gute verhaltenswissenschaftliche Argumente gegen solche Zufallsmechaniken.
Eines dieser Argumente liefert die "Equity Theorie", die ursprünglich aus der Sozialpsychologie stammt. Aus ihr lässt sich ableiten, dass faire Bedingungen in Gruppen die Kooperationsbereitschaft und Zufriedenheit fördern. Fair ist hier definiert als: Gleiche Anstrengung führt zu gleicher Belohnung. Daher entsteht Unmut, wenn zwei Kollegen etwa bei VW am Band die gleiche Arbeit machen, aber einer deutlich mehr Gehalt bekommt, weil er fest angestellt ist, während seine Kollege für eine Zeitarbeitsfirma tätig ist.
Bei der Charaktergenerierung mit Zufallssystemen wäre die Anstrengung das Würfeln und die Belohnung das Würfelergebnis in Form von Charakterwerten. Auch hier haben wir also eine Quelle von Unmut, da bessere Charaktere nicht das Ergebnis von mehr Anstrengung sind sondern schlicht aus mehr Glück resultieren.
Dieser Unmut ist laut diverser Experimente stark genug, dass Personen sogar bereit sind, sich selbst zu schaden, um derartige Unfairness zu verhindern. Ein Experiment dazu lief ungefähr so: Einem Angestellten wird eine Gehaltserhöhung von 100 € angeboten. Er erhält außerdem die Information, dass sein Kollege, der die gleiche Tätigkeit ausübt, 200 € Gehaltserhöhung bekommt. Er darf sich nun zwischen zwei Alternativen entscheiden: 1. Er nimmt die Gehaltserhöhung an, gewinnt 100 € aber akzeptiert dafür, dass sein Kollege bevorteilt wird. 2. Er lehnt die Gehaltserhöhung für beide ab. Die allermeisten Personen entscheiden sich in diesem Setup für Alternative zwei. Der Effekt wird allerdings schwächer, je mehr man sich selbst schadet (also je höher der eigene "Verlust"). Dennoch bleibt der Punkt: Menschen sind tendenziell sogar bereit sich selbst zu schaden, um Unfairness abzuwenden.
Dieser Befund fügt sich in Erkenntnissen aus der Evolutionspsychologie, der Moralpsychologie und der Ethologie ein. Laut Evolutionspsychologie bringen wir aus unserer Artgeschichte "Evolvierte Psychologische Mechanismen" mit. Hierbei handelt es sich um angeborene Verhaltenstendenzen, die Überlebensvorteile bieten bzw. boten. Ein solcher Überlebensvorteil ist z.B. die Tendenz zur Kooperation. Gut kooperierende Gruppen haben Überlebensvorteile. Nach Erkenntnissen der Moralpsychologie wiederum, ist "Fairness" in allen Kulturen dieser Erde ein grundlegendes moralisches Prinzip ist. Zusammen binden lässt sich das nun so: Gut kooperierende Gruppen sind nur stabil, wenn es hinreichend fair zugeht. Folglich ist die Tendenz, Unfairness abzulehnen, eine angeborene Verhaltenstendenz. Dies wird weiter untermauert durch Experimente mit Kapuzineraffen. Für Kapuzineraffen haben Trauben einen hohen Belohnungswert, Gurken hingegen einen niedrigen. Im Experiment wurden zwei Gruppen von Affen gebildet, die für "Arbeit" belohnt wurden und sich gegenseitig beobachten konnten. Am Anfang wurden beide Gruppen mal mit Gurken, mal mit Trauben belohnt. Nach einer Weile wurde Gruppe A nur noch mit Trauben und Gruppe B nur noch mit Gurken belohnt. Ergebnis: Gruppe B reagiert mit Arbeitsverweigerung - sie schadet sich also wie im Beispiel oben lieber selbst als Ungleichbehandlung hinzunehmen. Es existieren somit starke Belege, dass Zufallsmechaniken bei der Charaktergenerierung Unmutspotential haben. Unter der Prämisse, dass die Maximierung des Spielspaßes aller Beteiligten wesentliches Ziel gemeinsamen (Rollen)Spielens ist, sind Zufallsmechaniken bei der Charaktergenerierung somit problematisch (das gilt natürlich nicht, wenn Zufallsgenerierung benutzt wird, um Wertereihen zu bilden, die jeder Spieler verwenden darf).
Aber wieso ist der Zufall nur bei der Charaktergenerierung ein Problem, wo doch in Rollenspielen auch an vielen anderen Stellen mit dem Zufall gearbeitet wird (etwa bei Fertigkeitsproben). Zunächst sind auch Spieler, die in einer Sitzung häufig schlecht würfeln, frustriert (Menschen, die Affekte & Emotionen kaum wahrnehmen, lasse ich mal außen vor). So ging es mir z.B. erst gestern, ich habe massiv unterdurchschnittlich gewürfelt und das war meinem Spielspaß definitiv abträglich. Kurzum, schlechtes Würfeln schadet auch hier aber ich bekomme etwas dafür, dass diesen Schaden überkompensiert: Es ist spannend, wenn unklar ist, ob die Handlung meines Charakters gelingt oder scheitert. Und für diese Spannung, die den Spielspaß erhöht, kann man auf Zufallsmechanismen nicht verzichten. Zudem weiß ich, dass sich über viele Würfe aus statischen Gründen Glück & Unglück letztlich die Waage halten. Mal hat mein Mitspieler mehr Würfelglück, mal ich aber im Mittel gleicht es sich aus. Dieser ausgleichende und damit Fairness (wieder)herstellende Effekt kann jedoch nicht eintreten, wenn die Erfolgschancen der Charaktere sich schon vor dem Würfeln unterscheiden, weil mein Charakter wegen zufallsgenerierter Eigenschaften besser ist als der Charakter meines Mitspielers. Wenn an einem Spieltisch Charaktere ständig sterben und neu generiert werden müssen (ich habe mir sagen lassen, in manchen Ecken der OSR sei dies der Fall
), wirkt natürlich auch hier das Gesetz der Großen Zahl und zufallsgenerierte Eigenschaften kreieren kaum Unfairness.
Zu guter Letzt möchte ich kurz die Frage beleuchten, warum zufallsbasierte Generierung zwar seltener als früher aber beileibe keine Nischenerscheinung ist: Evolvierte Psychologische Mechanismen determinieren kein Verhalten sondern legen es nur nahe. Wenn mich jemand sehr ärgert, kann der Impuls entstehen, der Person "eins in die Fresse zu hauen". Meine Sozialisation sorgt aber glücklicherweise zuverlässig dafür, dass ich diesem (wie ich hoffe primär evolutionär bedingtem
) Impuls widerstehe. Wenn Menschen gelernt haben, Dinge auf eine bestimmte Art zu tun, ist das ebenfalls Sozialisation. Wenn ich mit Zufallsgenerierung sozialisiert bin, kann dieser Effekt daher den evolutionären Mechanismus leicht "überschreiben". Er muss ihn aber nicht überschreiben (die Randbedingungen hierfür zu vertiefen, führt aber jetzt definitiv zu weit) und wenn keine spezielle Sozialisation vorliegt, wird der evolutionäre Mechanismus certeris paribus verhaltenswirksam werden. Sprich: Wenn ich einer Gruppe Erst-Rollenspieler anbiete, ihre Charaktere entweder jeweils einzeln auszuwürfeln oder sie per Kaufsystem o.Ä. zu erstellen, werden die meisten Gruppen sich für die zweite Variante entscheiden. Damit entsteht dann über die Zeit natürlich auch eine sozialisierte Gewohnheit, die diesmal jedoch mit der evolvierten Verhaltenstendenz in Einklang ist. Aus diesen Gründen erwarte ich, dass über die Jahre die Zahl der Gruppen, die eine klassisch zufallsgenerierte Charaktergenerierung verwenden, immer weiter abnimmt.