... leider nicht so viel, wie ich gerne würde, ich bin gerade ein bisschen unter Zeitdruck, aber ich wollte den angekündigten Thread endlich mal starten.
In diesem Thread möchte ich explizit NICHT über den "Nicht-Natives, bitte spielt keine Charaktere aus realexistierenden Tribes!"-Aufruf am Anfang diskutieren; dafür mache ich in Kürze einen eigenen Thread in Rollenspiel & Gesellschaft auf. Das Thema lässt sich tatsächlich sehr gut vom Setting trennen.
Ich habe bisher Einleitung und die Settingkapitel gelesen, das sind die ersten 120 von 480 Seiten, und bin erst einmal sehr angetan. Es handelt sich um ein Alternate-History-Setting mit starkem SF- und leichtem Fantasy-Einschlag, das Label "Hopepunk" passt schon ganz gut. Um 1400 ist etwas auf der Erde eingeschlagen und hat eine mehrere hundert Jahre dauernde Eiszeit ausgelöst. Die Europäer haben entsprechend den amerikanischen Kontinent nie erreicht, die dortigen Zivilisationen haben auch erst einmal massiv unter den Folgen der Katastrophe gelitten.
Nach etwa 200 Jahren wird festgestellt, dass die pupurnen Flecken, die seit dem Einschlag zunehmend auf Tieren und Pflanzen auftreten, sich zu einer Substanz destillieren lassen, die den Menschen, die sie einnehmen, mit den Tieren oder Pflanzen assoziierte Kräfte verleihen kann. Mit der Zeit wird es in ganz Amerika zur Tradition, dass Menschen in der Pubertät in einem Initiationsritual etwas von dieser Substanz einnehmen und dadurch verändert werden - "einen Pfad wählen".
In den letzten 100 bis 200 Jahren gab es eine wissenschaftlich-technologische Explosion von Entwicklungen, die teilweise mit dieser Substanz zu tun hat (die beispielsweise bei Antigravitationstechnologie als Handwavium eingesetzt wird. Zusammen mit dem einsetzten Tauwetter sorgt das für eine massive Erhöhung des Lebensstandards und der Lebenserwartung. Dass und die kulturellen Unterschiede zu unserer Wirklichkeit lassen die Welt von Coyote & Crow teilweise wie eine soziale Utopie erscheinen: Es gibt praktisch keine ernsthafte Armut in den beschriebenen Ländern. Insbesondere in Cahokia, der kosmopolitischen "Kernstadt" des Settings, und den sie umgebenden "Free Lands" (die so heißen, weil sie aus von den umliegenden Nationen unabhängigen Gemeinden und Stadtstaaten bestehen), kommt ein hohes Maß an Diversität und Akzeptanz verschiedener Lebensweisen hinzu - es werden allerdings auch Gesellschaften mit starken sozialen Zwangsstrukturen wie Kasten oder erzwungener Affirmation an die vorherrschende Sprache und Kultur beschrieben.
Technologisch unterscheidet sich die beschriebene Welt vor allem dadurch von unserer, dass es nie eine industrielle Revolution und nie die Herausbildung von massenhafter Industrieproduktion gab. Entsprechend gibt es hochentwickelte Technologie bis hin zu künstlichen beweglichen Gliedmaßen (also Cyberarmen), aber viel davon wird (unter Zuhilfename von Gats, 3D-Druckern, die in erster Linie Maisabfälle als Rohmaterial verwenden) individuell hergestellt - im Buch wird darauf hingewiesen, dass das ein Aspekt von C&C ist, der eher Fantasy-Flair hat. Es gibt eine Art Internet, das ist aber sehr viel regionaler geerdet - da es bei C&C keien Luft- und Raumfahrttechnik mit Ausnahme von Antigravitationsbaken gibt, gibt es auch keine Satelliten in der Umlaufbahn ... Strom wird vor allem mit Solarzellen gewonnen, Bodenfahrzeuge werden kaum verwendet (das Rad existiert zwar, ist aber durch die Antigravtechnik "überholt" worden).
Hochseeschifffahrt existiert aufgrund der Unsicherheiten durch den Einschlag auch praktisch nicht, man weiß also so gut wie nichts über die Entwicklungen auf den anderen Kontinenten.
Es gibt einen Haufen netter Settingdetails (Komiker ist zum Beispiel ein hochangesehener Beruf, und alle Krankenhäuser haben festangestellte Komiker, da Lachen als notwendiger Teil von Heilungsprozessen gilt). Es gibt auch durchaus Konfliktstoff - ein nicht allzu lange zurückliegender Krieg, der praktisch alle Nationen erfasst hat, hat zwischen vielen Völkern böses Blut hinterlassen, Spionage und politische Korruption wachsen sich langsam zu ernsten Problemen aus, und natürlich gibt es auch die ganz normalen menschlichen Konflikte um Rache, Eifersucht, Habgier ... Platz für Charaktere ist da vor allem bei den umstrittenen "Suyata" einer Art reisender Marshals, die bei Konflikten eingreifen und Gefahren von den Menschen abwenden (da "Polizeien" ansonsten recht regional sind).
Mit gefällt das Setting sehr gut, es hat etwas von dem fließenden Übergang zwischen "Magie" (oder hier eher Spiritualität) und Technik, der mir bei Numenera gefällt, aber hier ist das in ein konsistentes Setting eingebettet und nicht einfach irgendwie zusammengewürfelt. Und es hat etwas von Blue Rose - die Charaktere kommen aus einer Gesellschaft, für die es sich einzutreten lohnt, die aber genug Konfliktpotenzial für Abenteuer bietet.
Nicht so gut gefällt mir, dass ein paar Elemente ein bisschen zu "rollenspielig" aufgesetzt sind - die besonderen Begabungen hätte es für mein Gefühl nicht gebraucht, und auch die Opening Fiction wirkt sehr so, als will sie erklären, warum ein paar Völker den einen Vorteil bekommen und andere den anderen (aber mal sehen, dafür muss ich erst noch den Regelteil lesen). Zum Teil ist es auch schwer, sich ein Bild von diesem doch sehr andersartigen Setting zu machen - im Regelbuch wird die Frage "Was für Technologie aus unserer Welt dürfte es plausiblerweise dort geben, was für welche nicht", zwar bearbeitet, sie bleibt aber kompliziert.
Das Setting funktioniert übrigens in meinem Kopf sehr gut im Einklang mit dem Sachbuch "Anfänge" von David Greber und David Wengrove, in dem sehr ausführlich (wenn auch teilweise spekulativ) dargelegt wurde, welche anderen Ansätze gesellschaftlicher Organisation als die heute gängigen es bereits in der Menschheitsgeschichte gegeben hat - und aus dem man beispielsweise erfährt, dass die jesuitischen Missionare in Nordamerika berichtet haben, völlig baff darüber waren, wie nordamerikanische Natives sie ganz gelassen an die Wand diskutiert haben, weil bei denen die öffentliche Debatte über die Gemeinschaft betreffende Entscheidungen eben der Standard war. Mit dem Gedanken im Hintergrund wirkt das Setting schon sehr viel weniger wie "Pff, ist doch alles idealisiert!" und deutlich mehr wie: "Nein, das ist eine mit Fantasy-Elementen aufgepeppte Spekulation darüber, wie menschliche Gesellschaft sich durchaus hätte anders entwickeln können."
Mit gefällt es, ich komme hoffentlich bald dazu, weiter zu berichten.