Bei dieser Diskussion, die ja immer wieder in leicht abgewandelter Form auftaucht, sehe ich vor allem zwei Schwierigkeiten:
1) Die unsichere Datenlage und persönliche Bubble
Wir erhalten unseren Eindruck dessen, was "beliebt" ist, aus unserer persönlichen Erfahrung und Umfragen auf Plattformen.
In meinem persönlichen Umfeld kenne ich momentan die folgenden laufenden Kampagnen:
1 x Fate (Dresden Files Accelerated)
1 x Pathfinder 1
2 x Pathfinder 2
2 x Dragon Age
8 x D&D 5
1 x Buffy the Vampire Slayer
1 x (Call of) Cthulhu
1 x Numenéra
1 x Warhammer Fantasy
1 x Shadowrun 6
2 x DSA4.1
Unregelmäßig in One-Shots gespielt werden: Dungeon World, Mythos World, DSA5, Gumshoe, (Call of )Cthulhu, verschiedene YZ-Systeme, Tiny Dungeon
Viele sind schon ganz heiß auf Avatar Legends (PbtA), eine erste Runde haben wir nächste Woche.
Shadowrun war zu Shadowrun 4/5 Zeiten bei uns sehr stark, inzwischen praktisch nicht mehr existent
Star Wars FFG war zu seiner Hochzeit sehr stark, inzwischen nicht mehr existent
DSA war zu 4.1-Zeiten sehr stark, nach dem Wechsel aus 5 praktisch nicht mehr existent. Einige Gruppen haben 4.1 weitergespielt, 5 wurde praktisch nicht gekauft.
Wenn ich unseren lokalen Händler frage ging in den letzten Jahren praktisch nur D&D5, das allerdings sehr gut und immer weiter steigend. Die OGL-Krise war spürbar, D&D5-Bestellungen wurden storniert, dafür massiv Pathfinder 2 bestellt. Wie es weiter geht bleibt abzuwarten.
Auf den Cons und GRTs die wir angeboten haben wurde praktisch alles gut angenommen, bis auf DSA, das war den meisten Anfängern zu kompliziert.
Splittermond und Midgard haben bei uns nie existiert und tun es immer noch nicht.
Manche Systeme kommen bei Demorunden sehr gut an, werden dann aber mangels Verfügbarkeit nicht weiter verfolgt (Beyond the Wall aktuell z.B.)
Je nachdem, wie eure lokale Szene aufgebaut ist, wird euer Bild ähnlich oder gänzlich anders sein.
Umfragen auf Plattformen sind vielleicht etwas aussagekräftiger, aber trotzdem massiv verzerrt, da auf einer bestimmten Plattform immer primär eine bestimmte Altersgruppe und Community vertreten ist. Selbst Verkaufszahlen sind nur begrenzt aussagekräftig , da z.B. die Veteranen meistens eher im Laden ihrer Wahl einkaufen (vor Ort oder Online z.B. beim Sphärenmeister), während Neulinge einfach dort zuschlagen, wo sie es kriegen und das ist dann wohl oft Amazon.
Auch die Statistiken auf Basis von gespielten System in VTT-Plattformen sind verzerrt, da sich gewisse Systeme einfach besser für VTT eignen und auch besser unterstützt werden als andere. Für PbtA online brauche ich kein VTT, da reicht mir Ton+Kamera.
2) Henne und Ei
Sind die großen deutschsprachigen Eigenproduktionen komplexe Systeme, weil die Spieler:innen es so wollen oder werden im deutschen Raum verstärkt komplexe Systeme gespielt, weil diese von den Verlagen als große Eigenproduktionen mit hohem Produktausstoß angeboten werden?
Fakt ist: Wir wissen es nicht, weil es keinen Vergleich gibt. Keiner der deutschen Verlage hat es mit einer regelleichten oder mittelschweren Eigenproduktion auch nur versucht (von halben Scherzprodukten wie SeaDracula abgesehen), geschweige denn dass so eine Linie beworben und zumindest über ein paar Jahre mit regelmäßigen Neuerscheinungen unterstützt worden wäre (und Settingbände und Abenteuer könnte man genauso für leichtere Systeme raus bringen, für etwas auf dem Level von D&D5 auch Regelerweiterungen).
Es könnte floppen oder das neue große Ding sein, wir wissen es einfach nicht.
Dazu kommt, dass die deutschen Systeme primär von den eingeschworenen Communities gepuscht werden. DSA zehrt immer noch davon, dass viele heutige Spielleiter damit ins Hobby gekommen sind. Auch wenn es in den letzten Jahren massiv von D&D5 unter Beschuss geraten ist (ich würde sogar sagen: verdrängt worden ist), D&D5 gibt es erst seit knapp über 8 Jahren, die deutsche Version erst seit 6, der Hype ist noch jünger. d.h. viele erfahrenere Rollenspieler:innen wurden noch vor D&D5 rollenspiel-sozialisiert. Primär auf diese abzuzielen mag momentan noch irgendwie funktionieren, aber ein Generationswechsel ist für so einen Ansatz der potentielle Tod. Den Kommentaren von Markus Plötz und Patrik Götz nach wird das auch schon gespürt, aber ich habe nicht den Eindruck, dass versucht wird, mal was anderes komplett anderes zu machen. Stattdessen macht man halbgare Einsteigerprodukte in den alten komplexen Kosmos um sich nicht aus der Komfort-Zone zu wagen bzw. nichts zu riskieren.
Die Szenen der deutschen Produkte schmoren im eigenen Saft und kannibalisieren sich gegenseitig. Splittermond hat bewusst primär Ex-DSAler geschluckt. Die Bewerbung der deutschen Systeme läuft sowohl von ihrer Art als auch ihren Plattformen her darauf heraus, dass man die Alt-Spieler erreicht und diese für neue Systeme (oder Neuauflagen alter Systeme) begeistert. Mit etwas Glück begeistert man über diese Alt-Spieler dann indirekt ein paar Neulinge, aber den Weg direkt zu den Neulingen geht man nicht. Natürlich wird dann das Bild, das die Verlage erhalten, von den Alt-Spielern geprägt und der Zuwachs an Neulingen ist minimal.
Ulisses hat eine unglaublich starke YouTube-Präsenz. Davon sind 40% DSA, 50% alte Männer zeigen alte Spiele und 10% die aktuellen Crowdfundings. Wenn Markus gerade wieder in der Laune ist redet er eine Stunde über Torg. In letzter Zeit bekommt Hexxen ein wenig Präsenz. Es gibt ein ausführliches Let's Play zu Harnmaster, das nach dem Crowdfunding (vor dem Let's Play) gar nicht mehr erhältlich ist. Gleichzeitig wird kritisiert, dass andere Systeme nicht ziehen.
Wo sind die regelmäßigen Produktvorstellungen und Let's Plays für Mythgart (5e), Dune, Starfinder, Fading Suns, Savage Worlds, Earthdawn, Warhammer?
Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Es werden nur die "großen" Systeme ernsthaft beworben. Natürlich verschwindet dann alles andere in der Versenkung und wird dann eingestellt.