Rollenspiele sind ein hybrides Medium. Eine Mischung aus Spiel und Narration. Die Art und Weise zu spielen ist ein Spektrum dazwischen.
Befasst man sich mit der wissenschaftlichen Theorie der Spiele, kommt man eigentlich nicht herum, sich mit Roger Caillois zu befassen. In „Die Spiele und die Menschen“ (1958) definiert er vier Grundkomponenten, von denen eines oder mehrere in Spielen vorkommen (jeweils auch in unterschiedlich starker Gewichtung):
agon (Wettkampf), alea (Zufall), illinx (Rausch), mimikry (Maskierung).
Agon sind Spiele und Sport, die auf Wettkampf beruhen. Als Beispiele nehmen wir mal Schach und Boxen. Es wird versucht, gleiche Voraussetzungen zu schaffen (beim Boxen etwas durch Gewichtsklassen) und letztlich entscheidet das Können. Dafür gibt es oftmals einen Schiedsrichter, der so neutral wie möglich sein muss.
Alea ist das Glücksspiel. Hier nehmen wir einfach die Würfel als Komponente. Die Würfel werden geworfen und die Spieler unterwerfen sich dem Ergebnis.
Illinx spielt beim Rollenspiel keine Rolle. Hier geht es um Bewegung, etwa wenn Kinder sich einen Abhang runterrollen lassen oder Drehspiele vollführen.
Mimikry ist die Maskierung. Räuber und Gendarm, das Kaufladenspiel oder das spielerische Darstellen eines Charakters.
In den meisten Rollenspielen haben wir einen Anteil an agon, alea und mimikry, der aber je nach Herangehensweise unterschiedlich gewichtet wird. Wir klammern hier mal reine Erzählspiele ohne Zufallskomponente aus (reines mimikry). Bei den anderen steht fest, dass alea respektiert wird. Ist dies nicht der Fall, dann entartet das Spiel, laut Callios. Denn wenn das Ergebnis der Würfel nichts mehr zählt, warum sollte mein Charakter jetzt sterben, wenn der Charakter meines Mitspielers in der letzten Sitzung gerettet wurde? Wie soll Spannung aufkommen, wenn ich weiß, ich kann meinen Charakter noch rausreden, egal was die Würfel anzeigen? Der ganze Teilbereich löst sich auf.
Viele Spielleiter erkennen dieses Dilemma intuitiv und so ist es leider zum guten Ton geworden, dass der Spielleiter zum Falschspieler wird (laut Caillios), indem er an den Würfeln dreht. Dies verhindert, dass das Spiel entartet, da der Spielleiter weiterhin vorgibt die Regeln zu respektieren. Er bricht sie aber, erwartet aber weiterhin, dass sich alle anderen den Regeln unterwerfen. Dass in vielen Regelwerken „Schummelparagraphen“ enthalten sind, ändert aber nichts daran: Der Spielleiter wird zum Falschspieler. Nicht umsonst wird da immer auch erwähnt, dass man es machen soll, ohne dass es die Mitspieler bemerken (hinter dem Spielleiterschirm). Daher stehen solche Absätze auch in separaten Spielleiterteilen, sofern diese vorhanden sind. Das Spiel würde sonst unweigerlich entarten. Ausnahmen sind entsprechende Sub-Systeme wie Bennies, Schicksalpunkte oder ähnliche Ressourcen. Hiermit kann eine Entwertung des alea vorgenommen werden, ohne dass das Spiel entarten muss.
Gerade auf Spielstile, die viel Wert auf agon legen, hat das aber weitere Auswirkungen: Ein gedrehter Würfel entwertet gleichzeitig das taktische Spiel. Denn ich kann in den meisten Spielen mit entsprechend taktischem Spiel die Wahrscheinlichkeiten zu meinen Gunsten verändern. Wenn der SL die Würfel hinter dem Schirm aber dreht, wie er will, gibt es keinen Grund mehr, die Würfelwahrscheinlichkeiten mit taktischem Spiel auf seine Seite zu bringen. Warum sollte ich mich von hinten im Dunkeln anschleichen, wenn der SL mich bei einem Frontalangriff auch rettet?
Im Grunde würde also nur noch mimikry verbleiben. 2/3 der Komponenten wären nur noch Schein und somit alles, was einemherausforderungsorientierten Spieler Spaß macht. Da ist es kaum verwunderlich, dass die entsprechend "allergisch" darauf reagieren.
Ein weiterer Punkt ist, dass ein Spielleiter kein neutraler Schiedsrichter sein kann, wenn er neben den Regeln auch noch der Narration verpflichtet ist. Man stelle sich vor, ein Fußball-Schiedsrichter hätte beim Leiten eines Spiels noch die Agenda, dass ein Fußballspiel möglichst lange spannend bleibt. Das ist ein Widerspruch in sich: Entweder ist er unparteiisch oder er hat eine Agenda. Bei Rollenspielen wäre diese Agenda eben die vorbereitete Narration.
Daher muss ein Spielstil, der auf Herausforderung beruht, zwangsläufig Abstriche bei der Narration machen. Die Narration muss aus den Ergebnissen des Spiel entstehen und nicht andersherum. Das Gegenbeispiel wären hier die pbtA-Spiele (die ich auch sehr gerne mag), bei denen aber das Spiel aus der Narration entsteht (die Narration triggert die Spielzüge). Das sind zwei völlig gegensätzliche Ansätze. Einer ist vom Spiel her gedacht, der andere von der Narration.
Ganz auflösbar ist dieses Dilemma aufgrund der hybriden Zusammensetzung des Rollenspiels allerdings nie. Man kann sich nur entscheiden, wie sehr man diese zwei Spektren an seinem Spieltisch gewichtet. Ist einem der spielerische oder der erzählerische Ansatz wichtiger? Je mehr ich in eine Richtung gehe, desto mehr Abstriche muss ich bei der anderen machen.
Aber pbtA-Systeme (mit den SL-Spielzügen? oder auch das Cypher-System (mit den SL-Eingriffen) machen vor, wie man als Spielleiter der Narration verpflichtet und trotzdem verregelt spielen kann, ohne zum Falschspieler werden zu müssen.
Denn letztlich bleibt eine Sache fest: Heimliches Würfeldrehen ist Falschspiel, egal bei welchem Ansatz.
Literaturtipps:
Roger Caillois – Die Spiele und die Menschen
Johannes Merkel – Spielen, erzählen, phantasieren
Johan Huizinga – Homo Ludens