Nachdem die Sonne untergegangen war und man nur noch den Seewind um das Haus streichen hört erhellen die Kerzen Helenas Zimmer. Es ist ein weiches, warmes Licht, das zwar nicht alle Ecken erreicht aber hell genug war damit man am Schreibtisch oder im Bett lesen konnte. Ohne das rascheln der Kleidung, das Scharren und Poltern der Koffer ist nur das knacken des Holzes im Kachelofen zu hören und das entfernte dunkle Donnern der Brandung an die Küste. Doch das menschliche Ohr gewöhnt sich schnell an das Geräusch und schon nach ein paar Seiten in dem Tagebuch von Joseph Corell ist das tosen der See zu einem Teil von ihr geworden.
Wenn man den Schreiber eines handverfassten Textes nach seinem Schriftbild beurteilen müsste, so würde Helena sagen war Joseph ein gradliniger, strenger Mann welcher hart gearbeitet hat und doch nie sein Ziel erreichte.
Seine Handschrift ist sauber, akkurat und es gibt kaum mal eine Seite wo ein Tintenkleks dem Löschblatt zum Opfer fiel. Joseph hat viele seiner Gedanken in dem Buch festgehalten, aber meistens schreibt er über sich und seine Beziehung zu Evaline, oder den mal mehr mal weniger gut gehenden Geschäften der Familie. Besonders stolz scheint er darauf zu sein, dass die Familie und der Familienbetrieb in das Jernkontoret (Eisenbüro) aufgenommen wurde und dadurch Einfluss bis in die Politik hinein entwickelte. Doch irgendwann nach dem Sommer 1839 ändert sich die Lage. Missinvestitionen und falsche Entscheidungen schmälern den Einfluss. Das Vermögen der Familie schrumpft, das Haus welches vorher als Kleinod beschrieben wurde wird zur Last. Immer wieder schweift Joseph jetzt ab zu Themen welche eher mit der Gesellschaft zusammenhängen. Er fängt sich verstärkt an für die „Geister des Landes“ zu interessieren. Wie man ihre Gunst gewinnen kann und natürlich nehmen seine Kinder einen Großteil seiner Zeit ein. Nach dem Tod von Evaline kann man aus jeder Zeile herauslesen, dass er versucht hat sich so gut es geht um sie zu kümmen, dass ihm aber alles über den Kopf gewachsen ist.
In ein paar Einträge aus den Jahren 1840 und 1841 fallen Helena dabei besonders ins Auge.
03. September 1840
Es ist wirklich eine Schande das meine liebste Evaline bei der Geburt von Lisbeth verstorben ist. Sie hätte es so geliebt sie alle aufwachsen zu sehen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke sie wäre in der Lage gewesen diese wilden Triebe zu zähmen welche die Kinder entwickelt haben. Eine Mutter, ein beruhigender, beschützender Einfluss, einen Trost den ich ihnen leider nicht bieten kann. Ich wünschte ich könnte verstehen was in sie gefahren ist, was sie zu solchem Verhalten treibt.
05. Mai 1841
Heute habe ich einen Brief von Konrads Internat erhalten. Er wurde der Schule verwiesen. Mal wieder. Ich weiß einfach nicht was ich mit dem Jungen machen soll. Da das Verhalten der anderen Kinder ebenfalls so ent anstrengend ist, bleibt mir nichts anderes übrig als sie alle nach Hause zu holen. Vielleicht kann ich einen Privatlehrer finden welcher sie unterrichtet. Platz haben wir genug und Geld spielt keine Rolle. Ich hoffe unter meinen wachsamen Augen werden sie sich wieder ein wenig beruhigen.
12. Juni 1841
Die letzten sechs Wochen waren schrecklich. Die Idee mit dem Privatlehrer war nicht von Erfolg gekrönt. Um genau zu sein hat der arme Mann über Nacht seine Sachen gepackt und ist abgereist. Er hat nicht einmal seinen Lohn für den Monat Juni eingefordert. Er und seine Habseligkeiten sind einfach verschwunden. Jede Form von Disziplin scheint bei Konrad total verloren zu sein und ist bei den anderen nur mäßig vorhanden. Das Einzige was ich tun konnte war ihre Interessen zu fördern. Alva liebt Pflanzen wie es scheint und August habe ich ein eigenes Atelier eingerichtet. Meine Kinder scheinen alles Wissen das sie in die Finger bekommen können aufzusaugen, ihre Neugier ist erstaunlich. Seltsam zu sehen, dass diese Interessen sich in so frühen Jahren manifestieren. Aber wer bin ich ihnen den Moment des Friedens zu verwehren den ich mit ihnen finden kann.
08. August 1841
Jetzt verstehe ich warum die Kinder sich so seltsam, ja fast wild benehmen. Johan kam erschrocken und aufgelöst zu mir, er weinte. Vor einigen Jahren sind die Kinder in meine Bibliothek eingebrochen, meine Forschungsbücher. Woher sollte ich Wissen dass ein damals zwölfjähriger Junge Interesse an verstaubten Wälzern entwickeln würde. Ich hätte sie besser sichern sollen. Nur ein Schloss mehr, oder am besten den Kindern gar nichts erzählen, das wäre das richtige gewesen.
10. August 1841
Ich weiß nicht welche Passagen sie gelesen haben, aber ich vermute, dass war der Auslöser für die gegenwärtige missliche Lage und ihr exzentrisches Verhalten. Johan sagte sie hätten die Geister der Insel geweckt. Vielleicht kann ich feststellen was sie getan haben und dann finde ich eine Lösung.
25. Oktober 1841
Ich habe über den Büchern gebebrütet. Ich verstehe nicht was die Kinder auf der Insel gemacht haben oder wie sie die Geister des Landes wecken konnten. Keine der Beschwörungsformeln in den Büchern hätte das bewirken können. Die Geister des Landes zu konsultieren sollte keine so lange anhaltenden, störenden Wirkungen auf sie haben. Einen Daemon zu rufen, dazu wären sie nicht in der Lage und selbst dann, ich hätte sie vielleicht nie wieder gesehen. Das kann ich ausschließen. Nichts gab mir einen Hinweis darauf was damals passiert ist, zu Mittsommer. Ach wäre der Junge doch bloß gleich zu mir gekommen. Vielleicht hätte ich dann mehr entdecken können, vielleicht hätte ich es dann besser verstehen können. Jetzt sind alle Hinweise längst verschwunden.
13. November 1841
Ich habe herausgefunden, dass die stehenden Steine eine Art Fokus sein müssen. Es gibt einen Grund warum dieses Land so viele Leute anzieht und doch abstößt. Ich fürchte, dass meine eigene Faszination für die stehenden Steine auf meine Kinder abgefärbt hat.
Irgendwann jedoch sind die Kerzen fast heruntergebannt und auch wenn sich Helena noch Stunden mit den Seiten des Tagebuches beschäftigen könnte stechen ihre Augen. Das Abendessen hatte ihr nur eine kurze Pause verschafft, ihr Gastgeber war nicht erschienen. Er ließ sich, unter Hinweis auf seinen erschöpften Zustand, entschuldigen so war sie alleine mit Aleksander und den reichlichen und köstlichen Speisen. Nur um danach weiter das Tagebuch zu verschlingen. Doch jetzt wurde sie müde, sie musste sich mehr und mehr dazu zwingen jede Seite zu lesen, jeden Absatz zu erfassen. Helena ertappte sich eins ums andere Mal dabei einen Satz zu lesen nur um festzustellen das sie ihn nicht verstanden hatte, weil ihr Geist abdriftete.
Aleksander indes nutzte die Zeit um sich einen Überblick über das Anwesen zu verschaffen. Je weiter er in das Haus vordrang, desto verlorener fühlte er sich. Es stimmte, dass dies ein alter Familiensitz war. Generation um Genration hatte das ursprüngliche Anwesen erweitert. Einige Teile scheinen noch direkt aus dem Mittelalter zu stammen. Unvermittelt stand er in einer Halle mit gewölbter Decke welche vielleicht mal eine Kapelle gewesen sein mag. Die Wände waren dick und die Fenster schmal, der Fußboden bestand hier aus ausgelegten, glatten Granitsteinen. Die Malerei an der Decke zeigte eine Karte von Schweden als Zentrum der Welt, dünne Linien führten zu Handelspartnern und allerlei Fabelwesen lauerten in den weiten der Meere und den tiefen Wäldern.
Die neueren Teile des Hauses waren elegant eingerichtet und allerlei teure Möbel zierten die Gänge und Zimmer, soweit Aleksander sie betreten konnte. Doch sie waren nicht weniger verlassen. Verlassen war vielleicht das richtige Wort für das Gefühl das Aleksander empfand wie er so von Raum zu Raum und Gang zu Gang kam. Immer wenn sich hinter ihm einer der sehr schön gestalteten Türen schloss verstärkte sich das Gefühl des verloren seins und insgeheim horchte er immer wieder auf das klingen der Ketten welches den Geist oder die Gestalt angekündigt hatte die ihn und Helena vor Johans Tür erschreckt hatte.
Er fand auch eine riesige Bibliothek in der er eine weile verharrte. Die Wände waren mit Bücherregalen überzogen und boten einen schier unermessliche Sammlung aller möglicher Werke. Von den Wänden standen weitere Regale ab, in denen es noch mehr Bücher gab und sich zwischen ihnen kleine Gänge bildeteten. Schiebeleitern waren an den Regalen angebracht, damit man auch die obersten Regalreihen erreichen konnte. Kronleuchter hingen von oben herab und spendeten Licht. Eine Ecke mit Sesseln und niedrigen Tischen lud dazu ein hier in den Wälzern zu stöbern.
Dann im Bereich der Bediensteten wurde das Elegante zum rustikalen. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, die Stoffe der Gardinen weniger erlesen die Läufer und Teppiche ausgelatscht und hatten ihre besten Jahre hinter sich. Wie in einem Komposthaufen verwitterte eine Schicht nach der anderen je tiefer man kam.
Von der Küche aus führte eine Tür hinaus zum Garten und Aleksander musste erkennen dass es inzwischen tiefste Nacht geworden war und er merkte wie auch ihn die Müdigkeit überkam.
Als er im Bett lag und so über seinen Spaziergang durch das Anwesen nachdachte kamen ihm die vielen Bilder wieder in den Sinn. Fast alle hatte August gemalt und auch wenn sie nicht chronologisch sortiert waren konnte Aleksander erkennen, dass je älter August wurde seine Motive in etwas abdrifteten was manch einer als ungesund beschrieben hätte.
Einiger seiner Werke trug den Namen „Land des ewigen Herbstes“ und zeigten verwitterte alte Feld oder in Nebel gehüllte Landschaften.
Ein anderes hatte zwar keinen Titel aber zeigte aufgeblasene Kreaturen welche vor einem fremdweltlichen Himmel schwebten. Vielleicht hatte sich August hier von den Quallen inspirieren lassen welche es sicherlich in den Gewässern rund um die Insel gab.
Während Aleksander einschlief schlich sich immer wieder ein Gedanke in seinen Kopf, wenn die Bilder dem Seelenleben des Malers entsprachen, dann schien August eine fragwürdige Gesinnung zu haben.
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Der Nächste Morgen graute und es war ein grauer, kalter Wintertag in dessen Winden vereinzelt Schneeflocken von der See herübergeweht wurden und wie kleine Feen oder Elfen in der Luft um das Anwesen tanzten.
Ihr hattet erstaunlich gut geschlafen und eure Lebensgeister waren neu erwacht. Ein Kaffee, Toast und ein wenig Obst zum Frühstück trugen ihr übriges dazu bei euch für neue Entdeckungen zu stärken.