Es gibt kein "natürliches Sprachgefühl", das ist alles eine Frage der Gewöhnung. Meine italienische Freundin hat mich vor ein paar Jahren scherzhaft gefragt, ob die Deklination von Pronomen (die es so im Italienischen und Englischem nicht gibt) bedeutet, dass wir Deutschen vielleicht ein kleines Egoproblem haben, weil wir unbedingt zwischen "das gehört mir" und "das ist meine/r/s" unterscheiden müssen. Für sie war das genauso unverständlich und albern, wie "siers" für Klingenbrecher.
Ein Stück weit mag das richtig sein und Gewöhnung führt (für manche Leute) sehr weit. Anders kann ich mir z.B. die grässlichen Anglizismen und die Kiezdeutsch-Einmischungen in den Sprachgebrauch vieler Leute nicht erklären.
Aber man muss schon zwischen dem Sprachgefühl bei Muttersprachlern unterscheiden und den Auffälligkeiten, welche eine Sprache (Deutsch) im Vergleich mit einer anderen Sprache (Italieinisch) aufweist. Sonst werfen wir wirklich alles durcheinander.
Und Psychologisierung anhand von (Mutter-)Sprache führt nicht sehr weit; allenfalls bei sehr speziellen Problemen macht das einen Unterschied, weil Sachverhalte unterschiedlich ausdrückbar und (möglicherweise) deshalb unterschiedlich denkbar sind. Überzeugt mich nicht, aber ich verstehe das Argument.
Gendern ist tatsächlich so ein Fall, wo man in unterschiedlichen Sprachen sehr unterschiedliche Möglichkeiten hat. Im Chinesischen und Koreanischen hat man beispielsweise kaum Probleme damit, weil die Sprache Geschlecht nicht ausdrückt. Da die Leute aber sehr wohl wahrnehmen, dass es unterschiedliche Geschlechter gibt, nehme ich an, dass die Sprache nicht das zentrale Problem ist und dass der Ausdruck von Geschlecht in der Sprache ziemlich egal ist. Ich würde (auch) daher für Lesbarkeit plädieren.*
*(Tatsächlich ist es noch etwas komplexer und das Chinesische hat auf der Schriftebene die Möglichkeit, beim, eher wenig verwendeten, Pronomen für die 3. P. sing. und pl., männlich, weiblich und sächlich zu unterscheiden; wobei es da um biologische Geschlechter geht, grammatisches Geschlecht existiert nicht. Das Koreanische kann sich z.B. die Möglichkeit schaffen, Geschlecht auszudrücken, was vor allem dann gemacht wird, wenn eher unhöfliche Sachen über Frauen gesagt werden.)
Und bedeutet das, dass nicht-binäre Personen damit auch einen Freifahrtschein haben, sich über binär identifizierende Personen (wie dich und deine Frau) lustig zu machen, weil ihnen die binäre männlich/weiblich-Einteilung (nicht nur im Rollenspiel) aufgezwungen wird?
Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass vieles von dem, was an Sprachregeln für nicht-binäre Geschlechter vorgeschlagen wird eine Art Realsatire ist und das irgendjemand sich sehr darübe amüsieren könnte.
Im Ernst: Der Sachverhalt ist doch ein anderer. Bei beliebiger Vielfalt bekommen wir eine beliebige Anzahl von Problemkonstellationen. Das ist mit universal gültigen Mitteln weder ausdrückbar noch ist das irgendjemandem zuzumuten. Ein sinnvoller Kompromiss ist in solchen Fällen eine rationale, praxistaugliche (und meinetwegen vorläufige) Lösung. Und die sehe ich in der Beibehaltung bestehender orthographischer und grammatischer Konventionen. Respekt voreinander sollte im tatsächlichen Umgang miteinander stattfinden. Ich sehe keinen Grund dafür, die Sprache (bzw. deren reflektiert gesonnene Anwender) zu diesem Zweck so zu quälen.