Puh, wo fange ich an...
Stellt euch vor, ihr spielt online nicht länger vor eurem Desktop-Computer oder Laptop sitzend, sondern gemütlich am Wohnzimmertisch, mit einer VisionPro AR/VR-Brille auf der Nase. Die Mitspieler werden euch virtuell ins Sichtfeld eingeblendet, wie sie ebenfalls in euren Wohnzimmer sitzen, automatisch kostümiert und an die ausgewählte Spezies angepasst.
Sorry, aber lass uns die Kosten eben nicht ignorieren. Ich zahle also unglaublich viel Geld für eine 3D-Brille, eine AR-fähigen Internetanschluss und ein PC-Setup, während ich für den Preis von 49-Euro auch einfach zu meinen Freunden hinfahren kann, um mit ihnen zu spielen? Klar, das amortisiert sich schnell, aber die Hardware-Voraussetzungen sind nicht ohne. Überhaupt lohnt sich das nur dort, wo die Spieler:innen meiner Gruppe in alle Winde verstreut sind.
Auf dem Tisch sehen alle einen virtuellen Dungeon, Aspaltdschungel oder eisige Wildnis mit Figuren der Spieler, allen Monstern, usw. während im Raum um euch herum (nur für euch sichtbar) euer Charakterbogen, Journal und Cheatsheet mit den Regeln schwebt.
Vielleicht steht in der einen Ecke noch ein virtuelles Bord mit angepinnten Hinweisen für das Ermittlungsabenteuer. Die SL hat Zugriff auf die gesamte virtuelle Rollenspielsammlung der Gruppe, kann jedes Buch vor sich schweben haben, daraus Monster oder NSC greifen, die aus den Bildern gezogen, 3D-Modell werden und auf den Tisch werfen kann, von wo sie dann an die gezeigte Stelle laufen und Kampfbereit sind.
Da gibt es unzählige Videos zu, die sich vor allem auf die Denkfehler hinter dem Konzept des
Metaverse beziehen, aber ich will's hier auch mal sagen: Im virtuellen Raum mit virtuellen Gegenständen zu interagieren wie mit realen Gegenständen ist
weniger komfortabel als einfach ein gut designtes Menü mit einer Maus oder Tastatur-Shortcuts zu bedienen. User Interfaces in den allermeisten Softwareanwendungen sind bereits so optimiert, dass die Reibung bereits auf ein Minimum reduziert ist. Wischen auf dem Tablet ist das einzige, was noch einfacher ist, aber damit sind nicht so komplexe Bedienungsabläufe möglich... und solche bräuchte man fürs RPG. Aus einer virtuellen Kiste eine virtuelle Miniatur herauszuwühlen, sie zu greifen, sie präzise auf dem Tisch zu platzieren, etc: Das geht mit der Maus so viel einfacher und schneller.
Und vom haptischen Charakter fange ich gar nicht erst an: Etwas zu greifen, was stofflich nicht da ist, wird sich immer sonderbar anfühlen. Da ist das Gefühl eines echten Buches, echter Würfel, der Nähe echter Mitspieler unschlagbar. Und ich glaube auch nicht, dass AR da das
next best thing ist.
Mit einem Fingerzeig kann die SL die Gestalt jedes NSCs annehmen und ihr hört sie
mit einer für diese Figur typischen Stimme. Und wenn gewünscht, könnte man auch die First-Person-Sicht seines Charakters einnehmen. Und würfeln würde man natürlich nach wie vor ganz normal, die Ergebnisse werden dann einfach von der Brille erkannt, virtualisiert und mit allen anderen am virtuellen Tisch geteilt.
Das imaginierst du dann aber nicht du selbst. NSC-Portraits und Bilder von Schauplätzen, alles klar, das lasse ich mit mir machen und das nutze ich selbst gerne und meine Spieler:innen auch. Aber das kuratieren wir dann eben auch selbst. Eine ganze 3D-Umgebung zu erstellen und das für jede Szene im Spiel ist zu viel Aufwand und benötigt präzises Knowhow. Das von jemand anderem erstellen zu lassen würde wahnsinnig teuer (weil die Arbeitsleistung, die nötig wäre, enorm ist). Und die customizing-Möglichkeiten wären beschränkt. Möglich, dass generative Sprachmodelle das übermorgen schon können, aber ich würde mal nicht davon ausgehen.
Ansonsten, was Orko sagt: Die Hürde dieses Zeugs selbst zu machen, sowohl zeitlich gesehen, als auch von den Skills, die man sich draufschaffen muss, wäre enorm. Doch wenn diese Customizing-Möglichkeiten fehlen, wär's auch doof: Ich ärgere mich ja schon regelmäßig darüber wie schwierig bis unmöglich es ist in aktuellen VTTs Hausregeln an den Tisch zu bringen, weil die meisten User und Firmen, die Regelsätze dort einstellen, nicht darauf achten, dass alles anpassbar sein muss – oder dass ich zumindest Attribute und Fähigkeiten umbenennen mag, wie's mir passt. Die meisten Menschen spielen ein RPG eben nicht
as written.
Und ich habe ja immer angenommen, Rollenspiel findet im Kopf statt und wir als Rollenspieler kämen damit wunderbar klar, wie wir über fast 5 Jahrzehnte damit klargekommen sind. Ich meine, dafür mache ich das. Wenn ich ein Computerspiel spielen will, dann spiele ich ein Computerspiel.
Ich würd's wohl mal ausprobieren, was du beschreibst. Vielleicht wäre ich sogar zunächst begeistert. Aber die Arbeit, die ich da reinstecken müsste, um dasselbe zu erreichen, wie an einem realen Tisch mit realen Props und realen Leuten – die steht in keinerlei Verhältnis.