Vielen Dank an alle für ihre Beiträge. Ich habe den Ausgangsbeitrag geschrieben, weil ich irgendwie fühlte, ich hätte einen wichtigen Gedankengang gehabt, den ich festhalten wollte. Ich konnte ihn aber nicht richtig greifen, deshalb war dies ein relativ umständlicher Weg, auf den Punkt zu kommen. Ich hätte es vielleicht noch etwas reifen lassen sollen, bevor ich es poste, aber meine Impulskontrolle war anderer Ansicht.
Also, nochmal von vorne, Vermi. Was wolltest du uns hier eigentlich sagen? Was ich sagen wollte, war dies:
1) Es gibt einen Spielstil, den ich als Drama-Spiel bezeichnen möchte, bei dem es den Beteiligten wesentlich darum geht, durch das Rollenspiel eine
gute Geschichte zu erzählen. Das setzt voraus, dass es Kriterien gibt, gute und schlechte Geschichten zu unterscheiden. Diese Kriterien mögen von Drama-Spielgruppe zu Drama-Spielgruppe etwas variieren, leiten sich aber prinzipiell von den Kriterien ab, die auch ein Redakteur an einen Roman oder ein Drehbuch anlegen könnte. Oft werden sehr leichtgewichtige Regelwerke verwendet, die viel Freiraum lassen. Simulierende Regeln haben dennoch einen Wert für Drama-Spiel, da sie eine Verkörperung des Prinzips von Ursache und Wirkung darstellen. Und das Prinzip von Ursache und Wirkung zu respektieren, wird meistens als wesentliches Merkmal einer guten Geschichte angesehen.
2) Um am Spieltisch, im One-Take, kollaborativ mittels der Methode Rollenspiel, eine
gute Geschichte erzählen zu können, muss man planen. “Play with a plan” (danke KhornedBeef
), denn Pläne sind nutzlos, aber Planung ist alles. Diese Planung erfordert von allen Beteiligten Arbeit im Vorfeld, und je nach persönlichem Prozess und Anspruch kann der geforderte Invest sehr hoch sein. Wenn man die Neigung dafür mitbringt, und Mitspieler mit gleicher Neigung und guter Chemie hat, die als Gruppe zusammenarbeiten, dann kann dies eine extrem intensive und begeisternde Form des Rollenspiels sein.
3) Im Namen der
guten Geschichte hat sich in den 80er und 90er Jahren jedoch eine Philosophie etabliert, die allein dem Spielleiter die Zuständigkeit für die “gute Geschichte” zuschrieb - nennen wir sie Story-Absolutismus. Man unterstellte, wenn Spieler die Chance dazu bekämen, würden sie die Geschichte kaputt machen, weshalb man ihnen die Chance dazu nicht geben dürfte. Zu diesem Zweck wurde der Spielleiter mit umfassender Macht ausgestattet und von jeder Rechtfertigungspflicht entbunden. Die Railroader, Spielerkleinhalter, Täuscher und Egomanen, die unter dieser Flagge segelten, werden von leidtragenden Rollenspielern automatisch assoziiert, sobald jemand etwas über
gute Geschichten im Rollenspiel sagt.
4) Der Gedanke, um den es mir geht, ist nun folgender: Ein Spielleiter mit einer Neigung zum Drama-Spiel, der für eine Runde von Casuals leitet, wird von diesen Casuals tatsächlich als sehr guter Spielleiter empfunden. Denn er serviert ihnen das Drama, einschließlich ihrer Rolle darin, auf einem Silbertablett. Es war in den 80ern und 90ern eine typische Konstellation, dass der Spielleiter der einzige Rollenspiel-Enthusiast in der Runde war. Die Spieler rekrutierte er aus seinem Freundeskreis und animierte sie zum Spielen, doch oft blieben sie eben Casual Gamers. Ich vermute, es war ursprünglich mit solchen Runden vor Augen, dass SL-Leitfäden geschrieben wurden, die ebendieses Modell zum Idealbild der Spielleitung erhoben. Doch dabei wurden die sehr spezifischen Voraussetzungen, unter denen das nur funktionierte, verkannt, denn:
a) Es gab viele Spielleiter und viele Spieler, die überhaupt keine erzählerische Neigung hatten und mit dem Konzept einer “guten Geschichte” insgesamt wenig anfangen konnten. Zeitweilig bekamen sie aber von so ziemlich jedem Regelwerk, das sie aufschlugen, gesagt, dass sie das müssten.
b) Selbst bei denjenigen Rollenspielern, die eine erzählerische Neigung hatten, war die
gute Geschichte, im Sinne eines handwerklichen Qualitätsanspruchs, meistens keine Priorität. Nachdem der Story-Absolutismus inzwischen gründlich dekonstruiert worden ist, zeigt sich, dass vielmehr die meisten Rollenspieler mit erzählerischer Neigung sich grob in zwei Gruppen unterteilen lassen:
(i) Die größte Gruppe, nennen wir sie Team Critical Role, sieht die Geschichte als Rahmen für im Kern traditionelles Rollenspiel. Die Kampagne wird in Arcs und Seasons dramaturgisch durchdekliniert, doch Dungeons, Kämpfe, Schätze, XP und Levelaufstieg sind immer noch zentral. Taktik und Weltsimulation sind wesentliche Bestandteile des Spiels, mindestens gleichberechtigt mit dem Erzählen einer Geschichte.
Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem das Schummeln und die Entwertung ihrer Leistung. Daher wurde im Story-Absolutismus oftmals versucht, durch faule Tricks über genau diese Entwertung hinweg zu täuschen, was für eine Weile auch gutgehen konnte.
Die Mehrzahl des Team Critical Role hat an Drama-Spiel kein Interesse, da entweder Action und Abenteuer fehlen, oder, wenn es Action und Abenteuer gibt, dabei die spielerische Herausforderung fehlt.
(ii) Die größte Gruppe danach, nennen wir sie Team pbtA, schreibt Geschichten weitgehend improvisiert. Alle Beteiligten sollen zu den Wendungen der Handlung beitragen und von ihnen überrascht werden (“play to find out”). Das Regelwerk soll keine Welt simulieren, sondern bestimmte Erzählmuster vorgeben. Das Augenmerk liegt auf der gerade gespielten Szene, der übergeordnete Handlungsbogen ist eher ein Nebenprodukt. Kausalitäten, Zusammenhänge und Hintergründe werden im Vorhinein wenig thematisiert und im Nachhinein wenig hinterfragt.
Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem, dass die Spieler daran gehindert werden, selbst den Verlauf der Handlung mit zu bestimmen. Viele von ihnen wollten seinerzeit auch den vergleichsweise klassischen Regelwerken und Genres entkommen, die im Story-Absolutismus vorherrschten (dies haben sie mit Drama-Spielern gemeinsam).
Die Mehrzahl des Team pbtA hat an Drama-Spiel kein Interesse, da man einerseits die Planung und die ausgearbeitete Backstory als einschränkend empfindet, und sich andererseits, im Gegensatz zu Drama-Spielern, nicht so daran stört, wenn es mal widersprüchliche Referenzen auf die Backstory gibt, oder wenn die Gründe für überraschende Wendungen und Entscheidungen mal unklar bleiben.
6) Die seinerzeitige Dominanz der Idee, “gutes Rollenspiel” sei gleichbedeutend mit “gute Geschichte”, entsprach also nie den tatsächlichen Vorlieben der Mehrheit derer, die sich ernsthaft für Rollenspiel interessierten.
Nicht einmal unter denjenigen mit erzählerischer Neigung. Drama-Spiel war nie als generelles Leitbild für erzählerisches Rollenspiel geeignet. Zwar mag Einbahnstraßen-Drama-Spiel durch den Spielleiter für Casual Gamers unterhaltsam sein. Doch es musste bei Spielern, die aktiv und mit eigener Agenda Rollenspiel spielen wollten, zwangsläufig auf Widerstand stoßen. Story-Absolutismus stellt den Versuch da, ebendiesen Widerstand zu brechen. (Hätte ich jetzt nicht unbedingt für den naheliegendsten Ansatz gehalten aber tja.)
7) Es
gibt echte Drama-Spieler, und es gibt gutes, sogar sehr gutes Drama-Spiel, bei dem niemand zu irgendwas gezwungen wird und bei dem alle Beteiligten ihre erspielte Geschichte rückblickend wirklich als
gute Geschichte bewerten. Doch dieser Spielstil teilt eine gemeinsame Historie und auch das Leitbild der “guten Geschichte” mit dem Story-Absolutismus. Daher begegnen ihm viele Rollenspieler, die negative Erfahrungen mit Story-Absolutismus gemacht haben, äußerst skeptisch.