Ich glaube, das Spiel wird es extrem schwer haben. Es wird sich sehr gut verkaufen, aber wenig gespielt werden. Nicht so extrem wie Avatar (wird das gespielt?), aber es ist verdammt dazu, immer mit D&D verglichen zu werden und von denen Leuten als "nicht nah genug an D&D" oder "nicht anders genug zu D&D" bezeichnet zu werden.
Spannend wird sein, ob sich Critical Role traut, mit D&D aufzuhören und auf Daggerheart zu wechseln. Ich bin davon überzeugt, dass 80% des Spieleindrucks gleich bleiben würden und die meisten Leute es gar nicht merken. Doch selbst wenn 10% der Zuschauer lautstark protestieren, sind diese 500.000+ Leute mehr, als alle anderen Rollenspiele (jeweils einzeln) außer D&D an Käufern haben.
Und auch Critical Role hat ein unlösbares Problem. Denn egal, ob sie D&D weiter machen oder Daggerheart nutzen, Leute werden sich beschweren und dieser Entscheidung die Schuld geben, dass es nicht mehr wie früher ist, dass die Popularität der Kampagne abnimmt und alles zu kommerziell geworden ist. War es nicht so, dass ihre Schlafanzug-Notfallfolge beliebter war, als die normalen Folgen der aktuellen Kampagne?
Aber sie hängen sich beim Playtest ziemlich rein: Extrem umfangreich (ich hatte nur gar keine Lust, so viel Material zu sichten), vollständiger Online-Support von Tag 1 an via Demiplane, zwei gute Erklärvideos plus sechs Stunden Material der "original crew", wo die ziemlich chaotische (was ich für Kalkül und eine Reaktion auf die impromptu Schlafanzugfolge halte) Charaktererschaffung bereits über 400.000 views hat und über 300.000 Leute die Show selbst gesehen haben.
Ich persönlich finde die Idee, dass man sich zur Charaktererschaffung Karten auswählt, ziemlich gelungen. Statt ein Buch rumzureichen, kann man die Karten auf den Tisch legen und jeder kann dann schauen. Gleichzeitig kann man so gewährleisten, dass jeder Spieler was anderes wählt und damit ausreichend Spotlight bekommt. Und man kann die Auswahlparalyse vermeiden, indem man einfach mischt und zieht. Und man hat sofort die jeweiligen Sonderregeln parat.
Aus Verlagssicht wäre natürlich besser, wenn jeder Spieler auch ein Regelbuch kauft, aber sie werden sicherlich auch die Karten verkaufen und zumindest perspektivisch darüber nachdenken, dass man dann später bei Demiplane oder wo auch immer, Kartenpacks mit weiteren Optionen nachkaufen kann.
Herr DnD Shorts (dessen Review-Video auch schon über 100.000 views hat) fand die Karten nicht so gut, weil man's auch direkt aus dem Buch auf den Zettel übertragen könnte und eine Chance verpasst worden sei, mit den Karten zu arbeiten (ablegen, weitergeben, ziehen, usw.), aber das finde ich jetzt keinen wirklichen Kritikpunkt.
Ich stimme ihm eher zu, dass man ziemlich viele Ressourcen-Töpfe verwalten muss. Ich weiß nicht, ob sie beim Testspielen immer online zugange waren, wo das relativ einfach ist, oder sich Tokens auf den Charakterbogen gelegt haben, doch mit aufschreiben und radieren stelle ich mir das sehr lästig vor.
So viele Ressourcen, die ja alle auf der Metaebene funktionieren, könnten auch der Immersion abträglich sein, das müsste man allerdings im Spiel ausprobieren. Ich finde, die meisten Erzählspiele haben dieses Problem, da ihre Regeln, die die Art der Geschichte treiben und nicht die Welt simulieren sollen. Aber vielleicht wird das von vielen auch gar nicht als Problem angesehen. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt ein super-immersiver Spieler bin, im Gegenteil, ich bin meist dabei zu überlegen, welche Handlung jetzt am besten in die Geschichte passt und dann erst, warum mein Charakter das machen würde und bin ebenso stark auf der Metaebene unterwegs. Ich glaube, das geht jedem, der häufig auch SL ist, so, selbst wenn man "nur" Mitspieler ist.
Ich mag die Todesregel (mit einem "Bäng" abtreten, es dem Schicksal überlassen oder jetzt ausscheiden, aber weiterleben).
Ich mag auch, dass man Erfolg und Misserfolg noch mit einem "aber" oder "und" würzen kann, d.h. es "success/failure with hope/fear" gibt, was es erlaubt, Handlungen besser auszuschmücken, indem man eben nur ganz knapp auf die andere Seite des Spalts springt oder nicht nur eine Axt kauft, sondern auch noch eine Tüte Fisch dazu bekommt. Dass die Chance für kritische Treffer von 5% auf 8,3% angehoben ist, macht's auch etwas bunter. Patzer, die häufig als "Der Charakter ist ein Trottel" ja fehlinterpretiert werden, gibt es meines Wissens keine. Gute Entscheidung.
Ich mag nicht so den Zoo an Abstammungen, weil ich immer das Gefühl habe, dass sind eh nur verkleidete Menschen und/oder Wesen, die alle ohne Ausnahme die selben aufgeklärten Moralvorstellungen der Spielenden des 21. Jahrhunderts haben. Aber ich bin alt und jüngere Spielende scheinen es zu lieben, sich entsprechend zu verkleiden. Ob jetzt auch jede Abstimmung automatisch Dunkelsicht und magische Fähigkeiten hat, habe ich nicht geprüft. Wäre es so, würde es beides entwerten. Da gefällt mir besser die Entscheidung von Shadowdark, dass Dunkelheit wirklich etwas bedrohliches ist.
Ich mag auch nicht so, dass Klassen und Unterklassen als erste und zweite Wahl so zentral im Fokus stehen, weil das sehr stereotypisch ist in einer aktuellen Kultur, wo ja jeder so stark auf das Vermeiden von Stereotypen achtet, dass Vorwürfe kulturelle Aneignung manchmal merkwürdige Auswüchse annehmen. Dabei helfen Stereotypen natürlich im Spiel. Aber ist das, was einen neuen Charakter wirklich zentral definiert, die Tatsache, dass es ein Krieger ist? Ist das meine erste Entscheidung, wenn in einem Spiel mitspielen will? Bei einem One-Shot, wo es jede "Rolle" einmal zu besetzen gilt, würde ich wohl zustimmen. "Okay, ich mache den Krieger – alle weiteren Details sind egal." Aber wenn man in einer längeren Kampagne spielt, dann würde ich sagen, dass es wichtiger ist, dass man jetzt einen Vampirsproß spielt, der von seinem Meister befreit auf einmal doch wieder tagsüber wandeln kann und nicht, "ich bin der Dieb der Gruppe".
Beim Gucken der Charaktererschaffung fiel mir auf, dass sich eigentlich alles, Klassen, Unterklassen, Feats (also die Domains) um den Kampf dreht. Das gefällt mir glaube ich so überhaupt nicht und wäre wohl mein Hauptkritikpunkt, weil es das Spiel in eine Richtung drängt, die ich mir persönlich nicht so zusagt. Damit ist das Spiel natürlich voll bei Pathfinder und D&D und bedient, was die meisten Leute wollen, aber schlecht finden kann ich's ja trotzdem
PS: Viele Teile -> 4 Videos auf dem Critical Role Kanal.
PPS: Viel Kleinscheiß -> ein Tablet oder Telefon mit dem Charakterbogen von Demiplane