Fahrenheit 9/11USA 2004, ca. 110 min.
R: Michael MooreKinostart Deutschland: 29.07.2004
Provokant, emotional und humorvoll – Michael Moores neuer Film "Fahrenheit 9/11" nimmt den Präsidenten der Vereinigten Staaten und die Aktionen der Bush-Administration seit der Wahl 2000 aufs Korn.
(26.07.2004) George Walker Bush, 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ist Hauptdarsteller eines Films, Washington die Kulisse, diverse Kongressabgeordnete und hohe Politfunktionäre die Nebendarsteller. Die Handlung: Die Arbeit des Präsidenten von seiner Wahl bis ins Jahr Drei nach dem Großen Anschlag.
Alles beginnt mit Bushs dubioser Wahl, die erst durch merkwürdige Umstände in Florida zu Stande kam. Sein erstes Jahr ist gekennzeichnet durch erstaunlich viele Urlaubstage des Präsidenten, der scheinbar lieber golfen und fischen geht, als im Oval Office zu sitzen. Doch am 11. September 2001 geht ein neuer Stern über seiner bislang glücklosen Präsidentschaft auf – durch das schlimmste und folgenreichste Attentat, das die westliche Welt nach dem Zweiten Weltkrieg erleben musste.
Engagement gegen die Regierung
Viele Probleme gab es im Vorfeld für Michael Moore, denn kaum eine große Verleihfirma in den USA wollte den Film in sein Programm nehmen. Man verscherzt es sich nicht gern mit der Regierung. Moore aber zeigt, wie die Bush-Administration und die „Falken“ in Pentagon und Weißem Haus auf den Anschlag reagierten: Seiner Meinung nach völlig überzogen, falsch und noch dazu ideologisch und religiös verbrämt.
Hinzu kommen die verfilzten Beziehungsgeflechte zwischen Wirtschaft, Lobby und Politik. Allem voran steht die schon fast persönlichen Beziehung des Bush-Clans zu den saudischen Öl-Multis, die nach Moores Dafürhalten maßgeblich zum Irak-Krieg beitrug.
Mit großem persönlichem Engagement prangert Moore die Missstände in Amerikas oberen gesellschaftlichen und politischen Etagen an – etwa, wenn er versucht, Kongress-Abgeordnete dazu zu überreden, ihre Kinder als Rekruten in den Irak zu schicken.
Hautnah am Geschehen
Filmisch ist Moore wie immer ein geschickter Handwerker: So zeigt er den 11. September in seiner Dokumentation nicht in Bildern. Denn die einstürzenden Twin Towers des World Trade Centers kennen wir zur Genüge. Statt dessen hören wir nur geschockte Passanten, Sirenengeheul, Schreie und die geballte Panik einer Weltmetropole – vor schwarzem Bildschirm. Nur hin und wieder zeigt die Kamera das gezeichnete Gesicht einer New Yorkerin oder eines New Yorkers, die fassungslos nach oben blicken. Die restlichen Film-Minuten bestreiten Interviews mit Kritikern, Archivmaterial über George W. Bush aus den letzten vier Jahren und, natürlich, Moores eigene amüsante und kritische Aktionen, die in keinem seiner Filme fehlen dürfen.
Abgesang auf „gods own country“
Michael Moore, der „erhobene Zeigefinger“ Amerikas, machte aus seiner Abneigung gegen die Bush-Regierung noch nie einen Hehl. Deutlich wurde das spätestens in der Oscar-Nacht von 2003, als er für „Bowling for Columbine“ (USA 2003) die Auszeichnung erhielt und am Mikrofon statt einer artigen Dankesrede sofort gegen den Irak-Krieg und die Regierung wetterte.
Jetzt ist er angetreten, um seinen großen Abgesang auf die hehren Ziele von „gods own country“ filmisch zu verankern. Dabei, so Moore, möge er sein Land sehr, sei sich aber auch darüber im Klaren, dass Amerika ganz und gar nicht das leuchtende Vorbild sei, für das es sich selbst so gerne hielte.
Nur zu gerne legt Moore den Finger auf die Wunde und streut Salz hinein – so auch in „Fahrenheit 9/11“. Seine Stärke hierbei sind die ungeschönte Authentizität der Bilder, die Interviews mit Kritikern und nicht zuletzt Moores ganz eigener Sarkasmus. So erfährt er, dass kaum einer der Abgeordneten je den umstrittenen "Patriot Act" gelesen hat. Sofort handelt Moore: In einem Eiskremwagen, den er dem Fahrer für ein paar Stunden abschwatzt, kurvt er immer wieder rund ums Capitol und liest per Lautsprecher das Gesetz den verblüfften Kongress-Abgeordneten vor.
Aktenzeichen 9/11 ungelöst
Dabei gilt es zu bedenken, dass auch Moore keine endgültigen Antworten geben kann. Wer warum wie und mit wem was getan hat, bleibt letztendlich ungeklärt. Doch er schafft es, seinen kritischen Ansatz im Gehrin des Zuschauers zu verankern. In Europa muss er dafür ohnehin wohl nicht viel tun, denn sicher ist dieser Film Wasser auf die Mühlen des zurzeit herrschenden Anti-Amerikanismus.
Für alle Amerikaner aber ist Moores neuester Film eher ein unangenehmer Spiegel. Besonders für jene US-Bürger, die ihrer Regierung vorbehaltlos und unkritisch vertrauen und seit dem 11. September trotzig das Star-sprangled Banner hissen. Moore zeigt ihnen, wie hintergründig eine Regierungspolitik sein kann, wie sie schlingernd sie zwischen Dutzenden von Interessen lavieren muss und dabei vielleicht auch die falschen Entscheidungen treffen kann.
(
www.sr-online.de, verfasst von mir)