Juan hat die Nacht in einem Gästegemach im Hause seines Vaters verbracht, aber gut geschlafen hat er nicht. Zu viel schwirrt ihm im Kopf herum, zu verwirrend ist die ganze Situation.
Aber im Licht des Morgens sieht alles schon wieder ganz anders aus. Neuer Tatendrang, neue Zuversicht hat von ihm Besitz ergriffen - es wäre doch gelacht, wenn all diese Rätsel nicht zu lösen wären. Lösen wird er sie - das ist er seiner Familie schuldig. Und nachdem er seinen Gefährten bei der Lösung ihrer Probleme beigestanden hat, wird er wieder in die Heimat zurückkehren und sie nicht mehr verlassen - auch das schuldet er seiner Familie.
So motiviert stürmt er in das Schlafgemach seines Brudersund reißt die Vorhänge auf. Aus dem Bett ertönt nur ein unwilliges Brummeln und Rascheln zeigt an, daß irgendjemand sich tiefer in den Federn vergräbt.
Nun gut - dann eben auf die harte Tour denkt Juan, ergreift den Wasserkrug, der zum Waschen schon bereitsteht und zieht die Bettdecke weg. Beim Anblick der sich ihm bietet, lacht er beinahe laut auf, kann es sich aber gerade noch verkneifen und setzt wieder eine grimmige Miene auf. Unter der Decke liegt nicht nur sein Bruder, sondern auch noch eine junge Frau, offensichtlich eine Bäurin - eventuell eine Pächterin seines Vaters - und schaut Juan aus weit aufgerissenen Augen an.
"Verzeiht, Senorita - ich wusste nicht, daß außer dem jungen Herrn hier noch jemand anwesend ist. Wenn ihr so freundlich wärt, Euch anzukleiden und alleine zu lassen - ich habe wichtige Dinge mit meinem Bruder zu bereden."
Die junge Frau nickt verschüchtert, zieht sich hastig an und verlässt beinahe fluchtartig das Zimmer.
Daraufhin leert Juan den Krug mit einer schwungvollen Bewegung über Giacomo, der gerade wieder einschlafen wollte. Nun jedoch fährt er prustend hoch und stürzt sich auf Juan, der ihn jedoch ohne schwierigkeiten mit einem Stoß der flachen Hand vor die Brust wieder auf sein Bett zurückwirft.
"Wir haben zu reden, kleiner Bruder."
Der Angesprochene blickt pudelnass und zornig zu Juan auf, sagt aber nichts.
"Du bist eine Schande für die Familie. Ich weiß, daß ich in dieser Hinsicht nicht gerade ein leuchtendes Vorbild war, aber ich bin immerhin auch nur ein Bastard und habe keinerlei Anrecht auf den Titel. Du jedoch hättest dich weiser Verhalten sollen. Du kennst doch Pablo und weißt, daß er ein denkbar schlechter Erbe für das Gut wäre - also hätte es deine Pflicht sein sollen, sich als fähiger Verwalter und weiser Menschenführer zu profilieren, um in die Bresche zu springen. Es ist doch offensichtlich, daß hier alles aus dem Ruder läuft, seit die Conda gestorben ist. Und all das riecht füörmlich nach Pablo. Was hat er damit zu tun?"
Giacomo ist immer noch sichtlich wütend, aber wie es scheint auch betroffen. Juans Worte haben dem Anschein nach sein Ehrgefühl getroffen.
"Ja" antwortet er. "Pablo hat Vater auf die Idee mit dem Reedereigeschäft gebracht. Und ich bin nicht sicher, aber ich glaube, daß er auch etwas mit den Überfällen auf die Schiffe zu tun hat. Jedenfalls hat er sich in den Wochen bevor diese losgingen oft mit zwielichtigen Gestalten getroffen. Die Kellnerin in einer Schenke, die ich auch ab und zu besuche hat mir auch erzählt, daß sie ihn bei einem solchen Treffen gesehen hat, und daß einer von denen eine Tätowierung wie einen Engel oder so etwas auf der Schulter hatte."
Bei dieser Enthüllung reißt Juan die Augen auf, aber bevor er etwas sagen kann fährt Giacomo fort.
"Etwas genaueres weiß ich nicht, aber ich glaube, Stefano hat Verdacht geschöpft - jedenfalls hat er Pablo immer so seltsam angesehen und auch viele Fragen gestellt. Und dann hat Vater ihn und seinen Sohn Armando entlassen - auf Pablos Betreiben hin. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber Vater war schon immer sehr nachgiebig gegen Pablos Wünsche und blind gegenüber seinen Launen - zumal sein anderer Liebling ja schon lange nicht mehr da ist."
Bei den letzten Worten erhält seine Stimme einen vorwurfsvollen Klang und Juan spürt, wie ein Schuldgefühl in ihm aufkommt - schießlich hat Giacomo recht.
Er gibt sich einen Ruck und sieht Giacomo fest in die Augen.
"Ich sage dir, was wir machen werden: Wir werden Pablos Verrat beweisen. Vater wird ihn enterben und Carmen als Erbin einsetzen."
Giacomo will protestieren, aber Juan kommt ihm zuvor.
"Nein - nicht dich. Ich habe gesehen, welch ein Mann aus dir geworden istm und Du bist wirklich nicht dafür geeignet. Allerdings ist noch nicht Hopfen und Malz verloren, denke ich. Du wirst deinen Lebensstil ändern und Disziplin, Verwaltung und Menschenführung lernen - ob bei deinem Studium oder nicht sei dahingestellt; vielleicht können wir dich auch bei Hagen von Reiholdsburg andingen - er scheint ein guter Mann zu sein. Wenn Du in einigen Jahren zurückkommst und sich herausstellt, daß Du inzwischen das Zeug zu einem weisen und gerechten Herrscher hast, wird Carmen zu deinen Gunsten abdanken. Möglicherweise willst Du den Titel und die Grafschaft dann jedoch gar nicht mehr - das ist ein hartes Geschäft. Ich jedenfalls weiß, daß ICH sie nicht will.
Bist Du damit einverstanden?"
Giacomo nickt. "Ja - wenn das wirklich so abläuft, wie Du es dir vorstellst."
"Das wird es - wenn ich Pablos Verrat nur beweisen kann. Möglicherweise haben Stefano oder Arturo die Möglichkeit, etwas zu beweisen - oder wissen, wo man Beweise finden kann."
Giacomo wiegt sinnend den Kopf hin und her. "Es wäre möglich, daß Arturo, unser alter Lehrer in Etikette weiß, wo man sie finden kann. Wie Du weißt, war er immer sehr gut mit Stefano befreundet. Er wohnt immer noch in dem Haus am Stadtrand."
"Gut." Antwortet Juan. "Ich werde ihn aufsuchen. Du hingegen wirst deinen Rausch endgültig ausschlafen, dich präsentabel machen und an Vaters Seite bei der Gerichtsverhandlung erscheinen - wie es dem Zweiten in der Erbfolge gebührt. Und kein Wort über den Plan, solange wir keine festen Beweise haben. Ich wünschte, wir könnten Vater diesen Schmerz ersparen - ich liebe ihn von Herzen - aber ein Geschwür muss herausgeschniten werden, auch wenn es schmerzt."
Und nun tut Juan etwas, was seinen Halbbruder überrascht: Er tritt auf ihn zu und umarmt ihn. Rauh sagt er:
"Auch dich liebe ich kleiner Bruder. Es tut mir sehr leid, daß ich nicht da war und kein besseres Vorbild gegeben habe. Aber es ist noch nicht zu spät - weder für mich, meine Fehler wiedergutzumachen, noch für dich, um dein Leben zu ändern."
Bevor der gerührte Giacomo ein weiteres Wort sagen kann, verlässt Juan den Raum.
*Schnitt*
Juan marschiert entschlossen auf Arturos Haus zu. Seine Gefühle sind gemischt - zum einen scheint es, als könnten die Schwierigkeiten besiegt werden und die Grafschaft der Montoyas gerettet werden, zum anderen schmerzt es ihn, seinen Vater verletzen zu müssen, indem er seinen Erstgeborenen des Verrats überführt. Als er anklopft und sich die Tür öffnet empfindet er jedoch warme Freude. Er hat den alten Arturo, der ein gestrenger aber gleichzeitig gütiger Lehrer war immer geliebt. Und die gleiche Wiedersehensfreude spiegelt sich auch auf dem Gesicht des alten wieder - obwohl er inzwischen über Siebzig Lenze zählt, ist sein Geist scheinbar immer noch so klar wie ehedem. Nach einer herzlichen Begrüßung, ein wenig Smalltalk und dem auffrischen alter Anekdoten wird Juan jedoch ernst. Er erzählt Arturo, was er von Giacomo erfahren hat.
"So - und nun frage ich, ob Ihr wisst, wo ich Stefano oder Armando finden kann. Ich benötige dringend Ihre Hilfe um Pablo zu enttarnen."
Statt einer Antwort blickt Arturo an Juan vorbei auf eine Tür, die sich geöffnet hat. Aus ihr tritt eine Gestalt, die im Halbdunkel nicht gleich zu erkennen ist
Sie tritt näher, und als Ihr Gesicht ins Licht gerät, fährt die Wiedersehensfreude Juan gleich einem Schock durch Mark und Bein.
Es ist Armando.