Der Fischer machte ein nachdenkliches Gesicht:
"Nun, was soll ich sagen? Die Holzfäller sind nicht gerade beliebt bei Freien wie uns. Ihre Familien haben sich vor langer Zeit schon in die Knechtschaft des hiesigen Fürstengeschlechts begeben. Seit dieser Zeit arbeiten sie für einen Hungerlohn. Ich glaube, sie hätten das niemals tun sollen. Ich denke, sie haben Metorns Zorn entfacht. Er mag es schließlich nicht, wenn Menschen ihre Seele verkaufen und als letzter Besitz nur noch ihr Leib bleibt."
Talonis stutzte. Offenbar hatte der Fischer wenig Ahung von der Lehre Metorns. So leicht ließ sich dieser Gott nicht erzürnen, wenn man von den heiligen Schriften ausging. Aber der Prister hörte weiter zu, als der Fischer fortfuhr:
"Ihr wolltet wissen seit wann die Holzfäller verschwinden? Seit sie im Fileipwald aufgekreuzt sind. Von da an müssen sie auch noch das letzte in Zahlung geben, was ihnen geblieben ist: ihr Leben. Mit jedem großen Baum, den sie schlagen, muss einer von ihnen sein Leben geben. Am Anfang waren die Dorfbewohner den Holzfällern gegenüber noch sehr freundlich, doch schon bald wollten sie mit denen nichts mehr zu tun haben, so wie wir..."
Der Fischer war wirklich ein redseeliger Mann, denn er quatschte noch eine ganze Weile ohne unterlass auf Talonis ein. Er erzählte von Sünden, die gesühnt werden müssten, von merkwürdigen märchenhaften Wesen im Wald und allerlei sonstigem Unfug. Jedenfalls konnte es nach einer Weile sogar einen Priester der Unverhüllten ermüden. Irgendwann im laufe des Abends kam Nimrott an den Tisch und gab zu verstehen:
"Ich störe euch nur ungern, Bruder Talonis, aber wir alle hielten es für das Beste, wenn jeder von uns jeweils ein Zimmer im Gasthaus des Klingenden Kelches nimmt. So bleiben wir zusammen und können morgen in aller Frühe aufbrechen. Ich möchte nicht zu spät abreisen. Vergesst nicht, ihr steht in meiner Pflicht. Ihr habt euch verdingt und damit ein Soll zu leisten. Ich beharre darauf."
Nimrott wirkte ernst, obwohl ein Unverhüllter eigentlich sehr vertrauenswürdig war. Er befürchtete offenbar, dass der Priester seine missionarischen Pflichten über seinen Auftrag stellen mochte, gerade in der Gegenwart ungebildeter Landarbeiter. Der Gelehrte ergänzte noch, bevor er wieder ging:
"Fragt den Wirt nach den Zimmern. Ihr werdet nicht bezahlen brauchen, der gute Mann schuldet mir noch einen Gefallen... eine Nacht Verpflegung und Unterkunft ist das mindeste, was er bieten kann."
Nimrott wies seinen Begleiter Baratos und Mortan an ihm zu folgen. Luana war schon vorrausgegangen und hatte sich offenbar vom Wirt das Zimmer zeigen lassen. Jedenfalls ging die gesamte Gruppe zu einer vielleicht etwas späten Stunde zu Bett. Auch Tolnis folgte bald, denn offensichtlich war von den Landarbeitern nicht mehr viel zu erfahren und der Auftrag ging im Moment nunmal vor. Es war schon nach Mitternacht, da brach ein schreckliches Gewitter herein, das die beinahe schwüle Hitze des Tages verdrängte, bis nur noch eine kühle und milde Luft zurückblieb. Nimrott saß bei seinem Ordensverwandten Baratos an einem kleinen Holztisch und blickte durch ein kleines Fenster in der lehmigen Fachwerkbehausung in die finstere, aber klare Nacht hinaus. Im Innenraum gab es keine erhellenden Lichter, nur die Sterne und ein ungewöhnlicher großer, runder Vollmond tauchten die Stube in einen silbrigen schimmer. Baratos betrachtete ebenfalls die Nacht. Die beiden saßen dort, ohne ein Wort zu wechseln, bis Nimrott mit einem mal an seinen Gürten griff und sein Buch hervorholte. Dann schlug er den Metallverschluss mit einem kräftigen Hieb hauf, so dass sich das Buch wie von selbst vor ihm auftat. Die merkwürdigen Schriftzeichen leuchteten wie von selbst im Schein des Mondes und waren vom Gelehrten leicht zu lesen. Nach einigen weiteren Momenten der Ruhe meinte Nimrott zu seinem Begleiter:
"In Vollmondnächten sind die unsichtbaren Welten stark, wie du weißt. Der Regen hat die Luft rein gewaschen, man sollte klar sehen können. Aber irgendetwas stört meinen Fokus. Ich kann mich nicht konzentrieren. Da ist jemand oder etwas hier an diesem Ort, was nicht normal ist. Jedesmal wenn ich meinen Blick hinüberschweifen lasse, bemerke ich diese... Stimme. Normal ist es jedenfalls nicht. Ich kann es garnicht in Worte fassen. Auf der einen Seite möchte ich schnell von hier fort und auf der anderen Seite möchte ich wissen, was das ist."
Luana schlief nicht viel, doch heute war die Nacht dennoch überschattet von merkwürdigen Träumen. Schon die ganze Zeit gingen ihr die Bilder des Abends nicht aus dem Kopf. Nicht selten hatten sie Ungewöhnliches gesehen, wenn sie sich auf das konzentrierte, was in der Welt der Geister vor sich ging. Doch heute waren die Gefühle ungewöhnlich stark, die Nacht fast beängstigend ruhig, nichteinmal der Lärm des Wirtshauses war zu hören. Und immer wieder erwachte die junge Frau schreckhaft aus dem Schlaf. Dann, irgendwann inmitten der Nacht, glitt sie unwillentlich in einen tiefen Schlaf ab. Es lösten sich Stimmen aus der Stille und der Mond flüsterte ihr etwas zu. Sie bewegte sich nicht und hörte gleichzeitig immer wieder diese Stimmen. Anfangs konnte Luana sie nicht deuten, doch dann wurde ihr klar, dass es Hilferufe waren. Und sobald sie dies erkannt hatte, merkte sie wie schrecklich ein unbekanntes Wesen jammerte. Es waren Rufe der Angst und der Leidens, die zu ihr herüberdrangen. Luana kam es vor als müsste sie alle Leiden und jede Furcht des Wesens zehnfach erleben und doch konnte sie nicht erwachen. Aus dem Wehklagen zeichneten sich Worte ab, die sowas flehten wie:
"Hilf mir, Schwester. Bitte steh mir bei. Befreihe mich, bitte. Bitte lass mich nicht allein."
Dann mit einem mal wachte die junge Frau auf. Sie lag ganz ruhig da, traute sich kaum zu rühren und starrte den Mond an. Dieses Erlebnis ging so tief, dass sie sich fragte, ob das wirklich nur ein schlechter Traum gewesen sein konnte.
Noch ungewöhnlicher wurde diese Nacht, als auch noch Mortan von merkwürdigen Träum heimgesucht wurde. Nicht nur, dass Träume bei Zwergen selten waren, sie enthielten im Gegensatz zu denen von Menschen doch fast immer nur stupide Abfolgen und Wiederholungen der Ereignisse des Vortages. Mortan träumte nicht annähernd so schlecht wie Luana, doch verwunderlich war, dass er unbekannte Bilder sah. Für die meisten Zwerge deutete sowas auf Anzeichen von Wahnsinn oder wenigstens verschüttete Erinnerungen hin. Am frustrierensten für Mortan war am Ende jedenfalls, dass er sich beim plötzlichen Erwachen mitten in der Nacht nichteinmal mehr daran erinnern konnte, was er denn geträumt hatte. Er wusste nur noch, dass es absolut ungewöhnlich war.
Talonis dagegen schlief so tief und fest wie selten. Vielleicht war es eine merkwürdige Fügung des Schicksals oder Metorns wachendes Auge der Nacht, der Mond, welches Talonis vor unruhigen Träumen bewahrte. Aber wahrscheinlich bewahrheitete sich einfach nur ein altes Sprichwort der Menschen: Einem anstrengenden Tag folgt selten eine anstrengende Nacht.