Nimrott dachte einen kurzen Moment nach und meinte schließlich:
"Ich sehe keinen Grund noch länger zu warten. Wir sind alle vollzählig. Einzig der Umstand, dass ich Gasper seit gestern nicht mehr gesehen habe stört mich ein wenig. Er hat mir versprochen heute morgen hier zu sein und mir zu sagen..."
Der Gelehrte zögerte ein wenig und flüsterte dann:
"ob es unten an den Toren zum Pass Schichtwechsel gegeben hat. Es gibt da ein paar Wachhabende, die von uns keinen Wegzolle einfordern würden."
Es hatte ganz den Anschein, dass Nimrott vor hatte, den Wegzoll auf nicht ganz rechtmäßige Weise zu umgehen. Wie er die Wächter dazu gebracht hatte den Zoll zu erlassen, behielt er aber für sich. Der Gelehrte erhob sich und wies seine Begleiter an ihre Habseeligkeiten zu holen und ihm zu folgen. Offenbar ging es jetzt tatsächlich los.
Vor dem Klingenden Kelch bot sich den Reisenden allerdings ein merkwürdiges Bild. Es lag nicht etwa am Wetter, wie man nach dem gestrigen Gewitter hätte denken können, denn die Sonne schien heiter aus einem strahlend blauen Himmel und eine leichte Brise trug den teils üblen Gestank des Burgdorfes fort. Normalerweise tummelten sich Scharen von Bürgern und Gesindel vor dem Klingenden Kelch und den angrenzenden Marktständen. Doch der Platz war leer, wo doch noch vor kurzer Zeit der Lärm der Straße bis in die Taverne vorgedrungen war. Ein paar Schwalben kreisten über den verdreckten Pflastersteinen, das war aber auch schon alles. Nimrott legte seine Stirin in Falten und streckte den Kopf, als ob er dadurch hätte mehr sehen können. Er ging ein paar Schritte über den Platz und fragte sich, was geschehen war.
Luana hatte bessere Sinne als all die anderen. Sie hörte Stimmen von Menschen, doch sie waren nicht auf dieser Seite der Festung. Sie befanden sich auf dem gegenüberliegenden Teil, dort wo der Fürst seine Residenz hatte. Sie wies ihre Begleiter an ihr zu folgen, was die Anwesenden auch taten, obwohl sie nicht wussten, worum es ging. Kaum war die Gruppe an den massiven Häusern und der hohen Mauer, welche sich mitten durch Frohnholm zog, vorbeigegangen, vernahmen auch die übrigen den Lärm einer Menschenmasse. Wirklich alle Einheimischen hatten sich vor dem steil emporragenden Bollwerk versammelt, in dem der Fürst seine Gemächer hatte. Rechts und links vom kleinen Podest hoch oben hingen an Haken zwei Käfige, welche bemitleidenswert entkräftete Gefangene festhielten. Nimrott war jetzt nicht der einzige, der zu all den Menschen aufschloss. Auch seine Begleiter waren über alle Maßen neugierig, was hier vor ging. Überall klumpten die Männer, Frauen und Kinder geradezu zusammen. Die jüngeren saßen auf den Schultern ihrer Väter, die Älteren blickten in Massen aus den anliegenden Fachwerkhäusern. Einige agile waren auf Fuhrwerke oder Fässer geklettert, um besser sehen zu können. Alle starrten sie gebannt auf den Podest, als ob es dort mehr zu sehen gäbe als eine große, schäbige Eichentür und jede Menge schroffe Steine. Offenbar wussten die meisten garnicht, auf was sie hier warteten, denn die meisten blickten ebenso fragend wie Nimrott oder seine Begleiter. Der Gelehrte blickte angestrengt und formte seine Lippen zu Worten, doch es kam nicht mehr heraus als ein unsicheres 'was'. Aber es hörte ihn sowieso niemand, weil die ganze Menschenmasse einfach zu viel Lärm machte. Doch dann, wie auf ein geheimes Stichwort hin, öffnete sich die Eichentür hoch oben und der Fürst trat hervor und zeigte sich seinen Untertanen. Fürst Gernot war ein grobschlächtiger Mann, der sich offenbar gerne zeigte, denn mit stolzgeschwellter Brust ob er die starke Arme in die Höhe und ließ sich bejubeln. Sein Gesicht zierte eine lange Narbe, welche bewies, dass er viele Schlachten geschlagen hatte und sich für keinen Kampf je zu Schade gewesen war. Daher trug er vielleicht auch ganz in der Tradition der Haberländer trotz der Hitze einen schimmernden Pelzumhang und einen fast silbrig glänzenden, verzierten Harnisch. Da Fürsten keine Krone tragen durften, sah man auch seine Halbglatze und die kurzgeschorenen, grauen Haare unverhüllt.
Nimrott blickte sich um, er jubelte nicht. Ganz im Gegenteil wurde er langsam unleidlich, denn er wusste überhauptnicht, worum es hier ging. Er fragte sich, warum die Menschen dem Fürsten zujubelten. Wahrscheinlich wollte keiner einen falschen Eindruck hinterlassen. Nach dem Motto: Wer seinem Herrn zujubelt, kann nicht versehentlich etwas flasches sagen. Doch dann hob Fürst Gernot beschwichtigend die Hände und der Lärm verstummte, als hätten die Bürger Forhnholms nur darauf gewartet. Neugierig und erwartungsvoll blickten diese zum Fürsten hoch. Gernot sprach mit seiner wohlklingenden, tiefen Stimme:
"Bürger Haberlands, Rießtals und Frohnholms, der Sieg wird unser sein."
Die Menschen schwiegen, anstatt zu jubeln. Sie tuschelten ein wenig miteinander, denn sie wussten nicht welcher Sieg über wen gemeint war. Der Fürst sprach weiter:
"Der Feind hat sich lange Zeit vor uns versteckt und unsere Männer aus dem Hinterhalt angegriffen. Sie gingen ihrem friedlichen Tagewerk nach, haben sich nichts zu schulden kommen lassen. Alles was sie wollten, war ein Auskommen zu haben, indem sie im Fileipwald wirtschafteten. Niemals zuvor sind Fremde uns derartig hinterhältig und ohne Vorwarnung in den Rücken gefallen. Ich kann die Holzfäller, welche von den verhassten Waldbewohnern auf brutalste Weise ermordet wurden, nicht mehr zählen, so viele sind es mittlerweile. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen wir nur noch zuschauen, wie unser Volk, ja vielleicht sogar alle Menschen von den bösartigen Fremden gequält und getötet werden. Wir schlagen zurück und begonnen haben wir mit einem ersten Gefangenen. Eine Frau. Aber urteilt nicht nach ihrem Aussehen, sondern nach dem, was sie getan hat. Allein hat diese Widerwärtigkeit der Natur und Fluch der Götter zehn unserer Brüder geschlachtet. Nur mit dem Mut der Verzweiflung konnte sie überwältigt werden. Und nun ist sie hier, in unserer Gewalt. Und es ist ein Platz für sie vorgesehen, der sie für das büßen lässt, was sie und ihr verdorbenes Volk uns angetan hat und noch antun wollte."
Von zwei schwer gerüsteten Wächtern wurde eine unscheinbare Gestalt aus dem Schatten gestoßen. Die Menge jubelte auf und verstummte bald, als sie eine junge, zerbrechlich anmutende Frau oben stehen sahen. Der Kopf war nach unten geneigt, keine Kraft schien in ihren Gliedmaßen zu sein. Die Anwesenden wusste nicht so recht, was sie zu dem Anblick des blondhaarigen Mädchens sagen sollte. Sie sah nicht ganz so aus, wie sie sich ein Monster vorgestellt hatten. Der Fürst nickte einem seiner Wächter zu und dieser zog der jungen Frau die langen Haare zurück. Die Männer und Frauen, welche ganz vorne standen redeten plötzlich durcheinander. Einer rief laut aus, was sie dachten:
"Sie ist eine Elfenfrau. Seht ihre Ohren. Der Fluch des Waldes."
Die beiden gerüsteten Männer legten zwei Holzbretter auf einen Haken rechts vom Podest, so dass sie darüber bis zu einem der Haken in der Wand gehen konnten. Ein Käfig wurde durch die Tür getragen und die Elfenfrau, die sich garnicht wehrte, hinein gesperrt. Die beiden Wächter trugen die Frau wie in einem Vogelkäfig bis zu einem der Haken und hängten sie in luftiger Höhe auf, so dass sie bald neben all den anderen bedauernswerten Gestalten ihr dasein fristen musste. Die Bretter wurden wieder eingezogen und die Menge verfliel in ein so wildes Jubeln, wie man es schon lange nicht mehr gehört hatte.