Willkommen zur neuen Reihe Fredicilin! Ich werde ich hier in ein paar Threads einige grundlegende Bausteine von Rollenspieltheorie zu erklären versuchen ohne dabei zu viel Technobabble zu verwenden. Die jeweils anschließende Diskussion ist frei und es können auch Begriffe aus anderen Theoriebereichen verwendet werden. Dies sollte jedoch nicht übermäßig geschehen.
Fredicilin: System matters ... ?
oder: ist das verwendete System wirklich wichtig?
Zunächst einmal müssen wir unterscheiden zwischen geschriebenem System und gespieltem System. Wenn wir normalerweise beim Rollenspiel von System reden, so meinen wir üblicherweise das geschriebene System, also das mehr oder weniger dicke Regelwerk, das vor uns auf dem Tisch liegt. Man spielt also zum Beispiel D&D, DSA, Wushu, ... das heißt, man hat das entsprechende Regelwerk vor sich liegen und spielt (mehr oder weniger) nach den entsprechenden Regeln.
Genau um dieses " mehr oder weniger " soll es jetzt im Folgenden gehen. Denn wie jeder weiß ist das geschriebene System nicht gleich dem gespielten System!
Das gespielte System ist die Menge an Regeln, die das tatsächliche Spiel, das heißt die Interaktion zwischen den einzelnen Spielern, steuert. Es geht also genau darum, wer wann etwas sagt, wer wann wem zuhört, wann weswegen gewürfelt wird und wer dies bestimmt, wer welche Charaktere steuert, usw.. Das gespielte System enthält also eine Menge an expliziten und impliziten Regeln, die den Prozess des Rollenspiels strukturieren.
Das gespielte System ist dabei immer eine Veränderung des geschriebenen Systems, das heißt das geschriebene System wird an die Bedürfnisse der Gruppe angepasst.
Diese Anpassung kann nun auf mehrere Arten geschehen:
Die wohl häufigste Art des geschriebene System zu verändern ist die der Hausregel. Eine neue Regel wird dem gespielten System hinzufügt. Die klassische Hausregel wird dabei meist schriftlich festgehalten, das ist aber nicht zwingend nötig. Sogar implizite, das heißt nicht wirklich ausgesprochene, Regeln werden dem geschriebenen System hinzugefügt. Das gespielte System enthält also eine Anzahl von Regeln, die in geschriebenen System nicht enthalten sind. Das ist einfach deswegen nötig, weil das geschriebene System niemals auf alle Eventualitäten und alle Besonderheiten der entsprechenden Spielgruppe eingehen kann.
Eine ebenfalls häufiger Art von Änderungen am geschriebenen System ist das Weglassen von Regeln. Regeln, die in geschriebenen System vorkommen, werden einfach ignoriert. Dies kann dann passieren, wenn die geschriebene Regel im Spiel zu Problemen führt und die Gruppe sich darauf hin einigt, die Regel im Folgenden zu ignorieren. Es kann allerdings auch sein, dass von vornherein gewisse Regeln ignoriert werden. Auch können Regeln aus Versehen ignoriert werden oder genau so wie bei den Hausregeln implizit, also ohne dass es speziell ausgesprochen wird, weggelassen werden.
Eine oft nicht so sichtbare Art der Änderung des geschriebenen Systems ist die Umgewichtung von Regeln. Doch obwohl es oft nicht so auffällt, kommt dieser Fall doch häufig vor. Hierbei wird gewissen Regeln nicht die Bedeutung eingeräumt, die in geschriebenen System vorgesehen ist. Bestimmte Regeln werden also nicht so häufig verwendet, wie eigentlich vorgesehen, oder auf der anderen Seite deutlich häufiger angewandt als dies im eigentlichen geschriebenen System vorgesehen ist. So wird z.B. deutlich häufiger oder deutlich weniger gewürfelt, es wird zu anderen Anlässen gewürfelt, bestimmte Szenen kommen häufiger oder seltener im Spiel vor als eigentlich vorgesehen, usw..
Auch die Auslegung der Regeln kann von der im geschriebenen System vorgesehenen Auslegung abweichen. So können bestimmte Regeln nicht so streng interpretiert oder deutlich strenger gehandhabt werden.
Die Modifikation von Regeln ist ebenfalls häufig, stellt zumeist aber eine Mischung aus den drei oben genannten Punkten dar.
Und nun zum eigentlichen Punkt: ist das verwendete System wirklich wichtig?
Dazu müssen wir, wie eben gesagt, zwischen dem geschriebenen und dem gespielten System unterscheiden.
Das geschriebene System ist dabei die Basis für das gespielte System und auch nur in dieser Form wichtig. Das geschriebene System bietet Ansatzpunkte und Ideen für das tatsächliche Spiel. Insofern hat das geschriebene System sicherlich auch eine Auswirkung auf das tatsächliche Spiel. Allerdings darf man nie vergessen, dass durch die Gruppe eine (mehr oder weniger) große Menge an Modifikationen am geschriebenen System vorgenommen werden um das eigentlich gespielte System zu erhalten. Insofern ist das geschriebene System nur dann wirklich wichtig, wenn davon im tatsächlich gespielten System noch etwas übrig bleibt. Je weiter sich das gespielte System vom geschriebenen ein entfernt, desto weniger Einfluss hat das dicke Regelwerk, das auf dem Tisch liegt.
Je weiter sich allerdings das gespielte System vom geschriebenen entfernt, desto mehr Anstrengung muss üblicherweise von der Gruppe aufgebracht werden, um das gespielte System zu erhalten. Jede Änderung des geschriebenen Systems ist normalerweise mit Zeit und Kraft verbunden (wobei Weglassen von Regeln sicherlich einfacher ist als neue Regeln hinzuzufügen). Insofern hat das geschriebene System hier auch den Einfluss, dass es kreative Energie der Gruppe binden kann, wenn sich die Gruppe auf Grund ihrer eigenen Präferenzen mit dem gespielten System sehr weit vom geschriebenen System entfernen muss. Dann kann das geschriebene System auch wenn nicht viel von ihm im gespielten System übrig geblieben ist auch in Form von Anstrengung einen Einfluss auf das Spielerlebnis haben
Die Regeln, die tatsächlich verwendet werden, also das gespielte System, haben natürlich einen riesigen Einfluss auf das Spielerlebnis. Sie strukturierten und Formen die Interaktion zwischen den Spielern und nehmen so natürlich großen Einfluss auf das Spiel. Und genau das ist gemeint mit "System matters": die Regeln, die ihr tatsächlich zum Spiel verwendet, machen eine ganze Menge aus. Die Regeln, die geschrieben im dicken Buch stehen, sind für diese tatsächlich verwendeten Regeln allerdings nur der Anfang. Manche Gruppen bleiben sehr dicht beim geschriebenen System, dann hat es einen relativ großen Einfluss auf das tatsächliche Spiel, meint die Gruppen entfernen sich aber sehr weit vom geschriebenen System, dann hat es nur noch einen sehr begrenzten Einfluss.
Und, verständlich? Ist das passend für die FAQ? Weiter mit Fredicilin? Ich hätte da noch ein paar Ideen...
Fragen, Anregungen, Dingens?