Achtung: Bevor ihr auch nur weiter lest, solltet ihr diesen Thread gelesen und verstanden haben:
Vermi erklärt das Big ModelUnd ihr solltet ihm Gelegenheit gegeben haben, ein bisschen zu sacken. Denn in dem oben zitierten Thread stehen die wichtigen Sachen drin. Das was jetzt gleich kommt, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Es steht nur leider so furchtbar im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil es darüber den meisten Streit gibt.
Ich habe in letzter Zeit endlich einen Zugang zu GNS gewonnen, den ich hier vermitteln möchte. Es ist meine persönliche Interpretation des Modells, das verhehle ich nicht. Es gibt keine einzelne Quelle, auf die man meine nachfolgenden Ausführungen ohne weiteres zurückführen könnte. Insbesondere nicht
GNS and other matters of Role-playing Theory von Ron Edwards. Vielmehr habe ich diese Interpretation in Diskussionen mit Fredi, Ben Lehman und Ron selbst gewonnen.
Wo sind wir?
[Social Contract [Exploration [Techniques [Ephemera]]]]
-------------------Creative Agenda------------------->Wir befinden uns in der unteren Zeile.
Creative Agenda (CA)Ich habe ja bereits in meiner Erklärung des Big Model einiges zur CA (früher auch: „Mode“) geschrieben. Das passe ich heute noch einmal per Edit an, um meine weiteren Erkenntnisse aufzunehmen (bitte noch einmal nachlesen). Es folgen nun ein paar wichtige Aussagen zur Systematik der CA:
CA ist situationsbezogenSie ist keine abstrakte ästhetische Präferenz, sondern eine ganz konkret im Rahmen des Spiels zum Ausdruck gebrachte ästhetische Präferenz.
CA ist spielerbezogenWenn es darum geht, CA zu identifizieren, betrachten wir die Perspektive des einzelnen Spielers. Wir analysieren, welche Beiträge er selbst zum Spiel leistet, und wie er auf die Beiträge und Reaktionen anderer Spieler reagiert.
CA ist nicht exklusivDie Alternative zu CA ist ganz einfach: keine CA. Entweder es ist eine vorhanden, oder es ist keine vorhanden.
Das hier ist ein Schlüsselaspekt zum Verständnis von GNS. Denn daraus folgt, dass sich viele Spielrunden dieser Welt mit dem GNS-Modell nicht adäquat beschreiben lassen. Wenn das oben über den Essays drüberstehen würde, hätte man sich viel Streit sparen können.
Die gemeinsame („shared“) CA ist das Ziel„Stellt sicher, dass alle am Tisch dasselbe Spiel spielen.“
Das ist der Sinn von GNS. Ein gemeinsames Spielziel. Ein – ausgesprochenes oder unausgesprochenes – Verständnis zwischen allen Mitspielern darüber, wie das Spiel zu spielen ist, welche Art von Beiträgen willkommen sind oder auch nicht.
Fredi hat in seinen CA-Threads, die ich hier absichtlich nicht verlinke, die Idee vom (gruppenbezogenen) „Spielmuster“ verbreitet. Das ist systematisch nicht ganz richtig, weil CA wie gesagt spielerbezogen ist. Aber letztlich wollte Fredi damit genau auf diesen Aspekt hinaus: dass alle Spieler „das gleiche Spiel spielen“.
Das heißt nicht, dass nicht auch ohne gemeinsame CA das Rollenspiel Spaß machen kann. Es heißt aber, dass die gemeinsame CA das zuverlässigste Rezept für viel Spaß und wenig Frust ist.
InkohärenzInkohärenz ist das Fehlen einer gemeinsamen CA. Inkohärenz ist daher, im Gegensatz zu CA, ein ausschließlich gruppenbezogener Terminus. Was kann Inkohärenz bedeuten?
Die einzelnen Spieler verwirklichen eine CA, aber nicht dieselbeEs ist eine andauernde Kontroverse, ob dies möglich ist. Rollenspiel ist interaktiv, und jeder Spieler ist auch von den Beiträgen und Reaktionen seiner Mitspieler abhängig. Wenn die Mitspieler daher andere ästhetische Präferenzen umzusetzen versuchen als man selbst, wird man selbst kaum die eigene Präferenz im Spiel so umsetzen können, wie man gerne möchte.
Unter dem Stichwort
Kongruenz ist jedoch diskutiert worden, ob es Konstellationen geben kann, in denen Spieler sich – trotz unterschiedlicher ästhetischer Präferenz – mit ihren Beiträgen und Reaktionen gegenseitig unterstützen. Wenn überhaupt, so dürfte dies nur unter sehr engen Ausgangsbedingungen machbar sein.
Die einzelnen Spieler versuchen, unterschiedliche CAs zu verwirklichenDurch ihr Verhalten im Spiel bringen die einzelnen Spieler ihre ästhetischen Präferenzen zum Ausdruck, können sie allerdings nicht verwirklichen, da sie gegen den Widerstand der Mitspieler und ggf. des Regelwerks ankämpfen.
Die einzelnen Spieler arbeiten auf keine erkennbare CA hinDas Verhalten der Spieler ist wechselhaft und lässt keine identifizierbare Präferenz erkennen.
KombinationenDa CA spielerbezogen ist, kann es innerhalb einer Gruppe auch verschiedene der drei vorgenannten Fälle geben. In jedem Fall liegt jedoch Inkohärenz vor, sobald nicht alle Spieler eine gemeinsame CA verfolgen.
Exkurs: DysfunktionalitätDysfunktionalität ist Forge-Sprech für „Rollenspiel, das keinen Spaß macht.“ Hinzu kommt der Leitsatz: „Besser kein Rollenspiel, als Rollenspiel, das keinen Spaß macht.“ Viele Leser sind darüber aufgebracht, weil sie denken, dass Inkohärenz automatisch gleich Dysfunktionalität gesetzt würde. Und diese Einstellung ist zugegebenermaßen verbreitet. Diesen Schuh muss sich auch Ron Edwards anziehen.
Das Theorie-Modell lässt es völlig offen, ob inkohärentes Spiel dysfuntional ist oder nicht. Es sind bloß die User der Forge, die oft diese Erfahrung gemacht haben und diese verallgemeinern. Ich schätze, wer mit seinem inkohärenten Spiel zufrieden ist, den verschlägt es halt normalerweise nicht auf die Forge, und wenn doch, kriegt er die Krise und verschwindet schnell wieder. Das war ja auch meine Reaktion bei meinem ersten Besuch dort vor eineinhalb Jahren. Exkurs Ende.
Wie man CA identifiziertOft kommt jemand und beschreibt eine ganz konkrete Spielsituation und das Verhalten eines Spielers in dieser Situation. Dann fragt er nach der CA dieses Spielers. So funktioniert das aber nicht.
Ambivalenz und KonfliktsituationenRollenspiel ist Exploration (jedenfalls nach Forge-Definition). Vieles, was Spieler beim Rollenspiel tun, ist „einfach nur“ Exploration. Es sagt überhaupt nichts über ihre CA aus. Manches, was Spieler tun, beinhaltet zwar potentielle Aufschlüsse über die CA, weist jedoch nicht eindeutig auf eine ganz bestimmte CA hin. Diese Ambivalenz macht es erforderlich, das Spiel nach bestimmten Situationen zu durchforsten, die möglichst eindeutige Rückschlüsse zulassen. Meistens wird man mehrere Situationen in der Gesamtschau hernehmen müssen, um die CA eines Spielers einzugrenzen. Das immer vorausgesetzt, dass überhaupt eine CA vorhanden ist.
Ralph Mazza spricht in diesem Zusammenhang von „Konfliktsituationen“ und meint damit Situationen, in denen für den
Spieler etwas auf dem Spiel steht. Wenn der Ausgang einer Szene dem Spieler wichtig ist, wird man am Ehesten sehen, an welcher Maxime er sein Handeln ausrichtet.
Instance of Play und Reward CycleDas Verhalten eines Spielers in einer gegebenen Konfliktsituation mag den ganz eindeutigen Anschein einer bestimmten CA erwecken. Doch um dies zu verifizieren, muss auch die Reproduzierbarkeit überprüft werden. Dazu muss das Spiel über eine gewisse Dauer betrachtet werden, um zu sehen, ob auch in vergleichbaren Spielsituationen wieder die gleiche CA zum Vorschein tritt. Und da es letztlich nicht auf den einzelnen Spieler, sondern auf die
gemeinsame CA aller Spieler ankommt, muss man diese Prozedur für alle Spieler einhalten.
„Instance of Play“ ist daher der Zeitraum, über den man eine Gruppe beobachten muss, um festzustellen, ob eine gemeinsame CA vorhanden ist, und wenn ja welche. Die Länge dieses Zeitraums hat Master Edwards genauer zu bestimmen versucht, indem er mindestens einen vollen „Reward Cycle“ fordert. Was das genau ist und wie es mit dem „Reward System“ zusammenhängt, verstehe ich noch nicht so ganz und ist wohl auch noch nicht so ganz raus. Na ja.
Merkt euch einfach: Man muss sich das Spielverhalten der gesamten Gruppe über einen längeren Zeitraum, im Zweifel mehrere Sitzungen, anschauen, ehe man eine vernünftige Aussage über die CA der Spieler in dieser Gruppe treffen kann.
Gamism, Narrativism, SimulationismJetzt habe ich CA ohne GNS erklärt. Und wenn ich meine Sache richtig gemacht habe, ergibt das Konzept auch ohne GNS einen Sinn. Welche Rolle spielen nun die drei großen bösen Buchstaben im Rahmen des Modells?
G, N uns S sind Klassifizierungen von im tatsächlichen Spiel beobachteten CAs. Es ist daher auch von den „gegenwärtig erkannten“ CAs die Rede. De facto werden wohl keine neuen mehr hinzukommen. Jede der vorhandenen Klassen hat ihre Unterklassifizierungen, die miteinander ebenso inkompatibel sein können wie unterschiedliche Klassen. Gam + Gam = gemeinsame CA ist daher keine Gleichung, die aufgeht. Mehr dazu in meinen einzelnen Erklärungen:
Vermi erklärt Gamism(Rest in Arbeit)
Ich wünschte, G, N und S würden nicht auch als „die“ Creative Agendas bezeichnet. Dadurch bezeichnet der problematischste aller Forge-Termini dummerweise zwei Dinge zugleich: Einerseits die tatsächlich im Spiel umgesetzte ästhetische Präferenz der Spieler, und andererseits die drei abstrakten Klassen G, N und S. Verwirrender geht’s kaum.
HybrideEs ist nicht ausgeschlossen, dass eine Gruppe eine stabile, gemeinsame CA aufweist, die nicht reinrassig G, N oder S ist, sondern Elemente zweier (theoretisch sogar dreier) dieser Klassen aufweist. In diesem Fall spricht man von einem Hybrid. Dafür reicht es allerdings nicht, dass einige Elemente des Spiels auf S hindeuten und andere auf G. Vielmehr ist es erforderlich, dass es eine ganz klare Zuordnung gibt, so dass der Erwartungshorizont an die Spieler jederzeit klar ist.
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Klar soweit?
Euer Vermi