So, heute möchte ich mal was mathematisches loswerden. Ich hoffe, es ist so verständlich formuliert, dass damit alle (oder zumindest ein paar von euch
) damit was anfangen können. Ich fürchte aber, man muss etwas Plan von Wahrscheinlichkeiten und Ressourcenmanagement haben.
Wahrscheinlichkeiten im Rollenspiel an sich sind ja schon kompliziert genug, aber jetzt kommt noch eine Falle, in die man leicht hineintappen kann: Bedingte Wahrscheinlichkeiten. Damit ist gemeint, dass ein Zufallsexperimentes davon abhängig gemacht wird, wie ein anderes Zufallsexperiment ausgegangen ist. Diese Situation tritt im klassischen Design relativ häufig auf. Drei typische Beispiele hierfür sind:
Beispiel 1: Verteidigung ist nur nötig, wenn der Angriff gelungen ist
Beispiel 2: Ein Schadenswurf ist nötig, wenn der Angriff getroffen hat
Beispiel 3: In Abhängigkeit von Schleichen-Proben muss eine Wache eine Aufmerksamkeits-Probe schaffen
Das Problem hierbei ist, dass die Werte, die nur in Abhängigkeit gewürfelt werden, dadurch mehr oder weniger wichtig werden können. Außerdem kann man keine pauschale Aussage machen, ob sie tendenziell wichtiger oder unwichtiger werden.
Die Formalisierung ist relativ kompliziert, daher werde ich darauf verzichten und die obigen Beispiele mit Zahlen belegen. Dass immer auf Unterwürfelproben mit dem W20 (Probe ist gelungen, wenn der Würfel höchstens den Wert zeigt) zurückgegriffen wird, dient vor allem der deutlich einfacheren Berechnung. Die Probleme gelten aber genauso auch bei Poolsystemen oder ganz anderen Ideen. Es kommt vor allem drauf an, dass eine Probe nur in Abhängigkeit von anderen Zufallszahlen gemacht werden muss.
Zu den drei Beispielen: Im Folgenden bedeutet P(...) = "Wahrscheinlichkeit dafür, dass ... eintritt" und E(...) = "Erwartungswert von ..."
zu Beispiel 1Zwei Charaktere haben beide in Angriff und Verteidigung zusammen 25 Punkte, Charakter 1 hat Angriff 10, Verteidigung 15; Charakter 2 genau umgekehrt. Der Angreifer verursacht Schaden, wenn der Angriff des Angreifers gelungen und die Verteidigung des Verteidigers misslungen ist. Beide Charaktere kämpfen gegeneinander.
Hier gilt:
P(Schaden wird verursacht) = P(Angriff gelungen, Verteidigung misslungen) = P(Angriff gelungen) · P(Verteidigung misslungen) =
Angriffswert/20 · (20-Verteidigungswert)/20
Also konkret:
P(Charakter 1 verursacht Schaden) = 10/20 · (20-10}/20 = 0.25
P(Charakter 2 verursacht Schaden) = 15/20 · (20-15)/20 = 0.1875
Offenbar ist also in diesem Fall Verteidigung besser als Angriff. Wird beides aus derselben Ressourcenquelle bezahlt, so macht es für Spieler keinen Sinn, Angriff zu steigern.
zu Beispiel 2Charakter 1 hat einen Wert von 5 zum Treffen, Charakter 2 einen Wert von 15. Waffe 1 gibt einen Bonus von +2 auf Treffen und macht W6 Schaden, Waffe 2 gibt +0 auf Treffen und macht W8 Schaden. Was ist besser?
E(Schaden) = E(Waffenschaden) · P(Treffen) = (max. Schaden + min. Schaden)/2 · (Wert + Bonus)/20
Konkret:
E(Schaden Charakter 1 mit Waffe 1) = (6+1)/2 · (5+2)/20 = 49/40 = 1.22
E(Schaden Charakter 1 mit Waffe 2) = (8+1)/2 · (5+0)/20 = 45/40 = 1.12
E(Schaden Charakter 2 mit Waffe 1) = (6+1)/2 · (15+2)/20 = 119/40 = 2.98
E(Schaden Charakter 2 mit Waffe 2) = (8+1)/2 · (15+0)/20 = 135/40 = 3.38
Es kommt also auf den Trefferwert an! Obwohl dieses Beispiel sehr einfach ist, so wirkt sich offenbar der Waffenbonus für einen schwachen Charakter stärker aus als für einen ohnehin schon starken Charakter. Für Charaktere mit gutem Angriffswert ist das Verursachen von hohem Schaden wichtiger.
zu Beispiel 3 (Interpretation A)Zu einem weiteren Ungleichgewicht kann es kommen, wenn ein einzelner Fertigkeitswurf gegen mehrere andere gestellt wird. Eine Wache bewacht etwas und ist aufmerksam. Drei Charaktere wollen sich unbemerkt anschleichen. Zunächst würfeln die Charaktere eine Schleichen-Probe. Misslingt eine davon, bemerkt die Wache die Schleicher. Gelingen alle Proben, so steht der Wache eine Aufmerksamkeits-Probe zu. Gelingt diese, so bemerkt sie die Charaktere trotzdem.
Auf den ersten Blick scheint das ein ähnliches Problem zu sein, wie beim Angriffs-/Verteidigungsbeispiel. Hier ist die Lage aber etwas komplizierter. Angenommen, sowohl Schleichen als auch Aufmerksamkeit ist jeweils 10.
P(Charaktere bleiben unbemerkt) = P(Schleichen gelingt, Aufmerksamkeit misslingt) = P(Schleichen gelingt) · P(Aufmerksamkeit misslingt) = (10/20 · 10/20 · 10/20) · (20-10)/20 = 1/16 = 0.06
Nach dem obigen Angriffs-/Verteidigungsbeispiel ist die Abwehr, hier also die Aufmerksamkeit, besser. Sind jedoch die Werte alle 13, so folgt:
P(Charaktere bleiben unbemerkt) = (13/20 · 13/20 · 13/20) · (20-13)/20 = 0.1
Also eine Verbesserung für die Schleicher. Nun könnte man argumentieren: Die Charaktere haben viel mehr investiert, nämlich 6·3=18 Punkte, die Wache hingegen nur 6. Wie sieht es denn aus mit Schleichen 12 gegen Aufmerksamkeit 16?
P(Charaktere bleiben unbemerkt) = (12/20 · 12/20 · 12/20) · (20-16)/20 = 0.04
Dann ist in diesem Beispiel die Wache wieder im Vorteil.
zu Beispiel 3 (Interpretation B)Noch schwieriger wird es, wenn die Qualität der Schleichen-Proben in die Aufmerksamkeits-Probe hineinspielt. Also: Misslingt eine Schleichen-Probe, werden die Charaktere auf jeden Fall bemerkt. Gelingen alle Proben, so gibt der niedrigste gewürfelte Wert die Erschwernis für die Wache an.
Zunächst: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle Proben gelungen sind und der niedrigste Wurf genau i ist? Seien X1, X2, X3 die Probenwürfe und haben alle drei Charaktere den gleichen Schleichenwert. Dann gilt:
P( min{X1,X2,X3}=i, X1,X2,X3<=Wert )= P(X1,X2,X3>i) - P(Wert>=X1,X2,X3>=i+1) = ( (Wert-i+1)/20 )^3 - ( (Wert-i)/20 )^3
Beginnen wir wieder mit einer 10 in allen Werten (Anmerkung: Die Berechnung benutzt den sogenannten Satz der totalen Wahrscheinlichkeit).
P(Charaktere bleiben unbemerkt) = P(Schleichen gelingen und Aufmerksamkeit misslingt) = Summe(i=1..10) (10+i)/20 · ( ( (11-i)/20 )^3 - ( (10-i)/20 )^3 ) = 0.08
Wenn aber die Schleichen-Werte der Charaktere auf 11 sind und die Wache hat eine 13, so gilt:
P(Charaktere bleiben unbemerkt) = Summe(i=1..12) (7+i)/20 · ( ( (12-i)/20 )^3 - ( (11-i)/20 )^3 ) = 0.09
Also eine Verbesserung für die Charaktere, obwohl sie insgesamt nicht mehr investiert haben als die Wache. Setzt man Schleichen auch auf 13, so ergibt das sogar eine Wahrscheinlichkeit von 0.15 dafür, dass die Charaktere unbemerkt bleiben.
Und was lernt man jetzt daraus? Ganz einfach:
Solche bedingten Würfe sollten vermieden werden. Solche bedingten Würfe sollte man nur benutzen, wenn man weiß, was man tut. Sie sind schwer zu überblicken und verhalten sich schlecht vorhersehbar. Eine Alternative ist die vergleichende (konkurrierende) Probe, bei denen die Seite mit der höheren Probenqualität gewinnt. Von dieser Qualität kann man dann auch den Schaden direkt ohne Wurf abhängig machen.
Ein Problem bei vergleichenden Proben kann die hohe Streuung sein. Dadurch kann die eigentliche Fähigkeit der Charaktere in den Hintergrund treten und das Ergebnis im Wesentlichen vom Würfelglück abhängen. Um das zu vermeiden, kann durch eine Änderung in der Würfelprozedur die Varianz vermindert werden, z.B. indem statt W20 einfach 3W6 eingesetzt werden oder auch Würfel mit weniger Seiten einzusetzen. Eine andere Möglichkeit ist es, eine Probe mit dem Erwartungswert anzunehmen und nur die andere Probe zu würfeln. Wenn man aber auf bedingten Ereignisse nicht verzichten möchte, so sollte für die Ereignisse unterschiedliche Ressourcen herangezogen werden.
Zwei Beispiele aus dem "realen Leben":
1. Das (A)D&D-Kampfsystem ist vom Standpunkt der bedingten Wahrscheinlichkeiten ganz gut gelungen: Der Angriffswert wird im wesentlichen durch XP bezahlt, der Verteidigungswert durch Geld. Außerdem gibt es keine bedingten Ereignisse im Ablauf Angriff/Verteidigung; hierbei handelt es sich um vergleichende Proben, wobei der Wurf des Verteidigers als 10 angenommen wird.
In Sachen Schaden ist auch (A)D&D allerdings nicht ideal, denn die Gefährlichkeit eines Treffers wird aus derselben Quelle bezahlt wie die Verteidigung (nämlich Gold). Dadurch muss der Spieler abwägen, ob mehr Verteidigung oder mehr Schaden besser ist. Daher mussten die Autoren das durch aufwändige Kostentabellen für Waffen, Rüstungen und weitere magische Gegenstände ausgleichen.
2. DSA ist hier vom Design nicht so günstig, jeweils Attacke und Parade bzw. Schaden und Rüstungsschutz durch dieselben Ressourcen bezahlt werden, nämlich durch Abenteuerpunkte bzw. Geld. Das ist erstmal nicht schlecht, allerdings kosten Attacke und Parade gleich viel, sind aber nicht gleich viel wert, da eine bedingte Mechanik eingesetzt wird, so dass die Parade der Attacke grundsätzlich überlegen ist. Daher wurde bei DSA eine künstliche Begrenzung für die Parade eingeführt.
Dom
EDIT: Aussage über die Brauchbarkeit von bedingten Proben revidiert.