Wie ist das bei euch? Hat das System und insbesondere der Charakterbogen bei euch auch einen so wichtigen Einfluss auf euer Spiel- Und Charaktergefühl? Stärken selbst nutzlose Attribute/Fertigkeiten euer mentales Bild des Charakters, einfach nur, weil sie da sind/auf dem Bogen stehen?
Klare Antwort: Ja.
Und die Begruendung: Ich neige dazu, einen Charakter haben zu wollen, der auch lebensfaehig waere, wenn er nicht fiktiv waere. Das heisst, meine Charaktere haben in der Regel alle moeglichen kleinen Ecken und Kanten und Staerken und Schwaechen und Charakteristika und was es sonst noch so gibt ;-) .
Andererseits kommt es vor, dass ich einen Charakter fuer eine Weile nicht spielen kann. Meine letzte Runde liegt derzeit 9 Monate zurueck, die vorletzte satte anderthalb Jahre. Manche Charaktere liegen auch schon laenger "auf Halde". Aber alles, was auf dem Charakterbogen steht, kann ich wieder erinnern und mir daraus das meiste ableiten, was ich mir mal gedacht hatte. Insofern habe ich teils Charakterboegen von bis zu 10 DinA-4-Seiten, die mir eine weitgehend genaue Rekonstruktion ermoeglichen.
Es gibt einen zweiten Faktor, der mich dazu bewegt, Dinge festzuhalten: "Denn was man schwarz auf weiss besitzt, kann man dem SL getrost entgegenhalten."
Es ist immer komisch, wenn Charaktere ploetzlich eine seltene und fuer sie ungewohnte Faehigkeit auspacken. Wenn der Krieger nun in seiner Freizeit Strickpullunderchen fuer den Babydrachen stricken moechte, koennte der SL die Stirn runzeln und sich Sorgen machen, was dieser Krieger moeglicherweise irgendwann noch so alles kann. Und es soll ja Leute geben, die mit "Haare schneiden" Attentate verhindern koennen wollen... Wenn man nun eine konkrete Liste der Faehigkeiten hat, kann der SL diese Liste billigen und der Spieler die entsprechenden Dinge - auch "neben dem Regelwerk" - eben fuer die Ausgestaltung seines Charakters besitzen. Notfalls stellt man eben klar, dass keine dieser Faehigkeiten im Regelfall plotrelevant eingesetzt werden kann, und dann koennen beide Seiten beruhigt damit spielen. Es ist einigermassen klar, dass der Krieger stricken, aber eben nicht toepfern kann. Damit steht "toepfern" vielleicht einem anderen interessierten Spieler als regelirrelevantes Ausschmueckungselement zur Verfuegung.
und vielleicht als weiterführende Frage:
Wenn dem so ist, wäre es dann sinnvoll den Fokus der Systementwicklung etwas von kohärenter und "wirtschaftlicher" Regelentwicklung wegzuschieben und etwas mehr den Einfluss des Systems auf das Spielgefühl auch in solchen Randpunkten wie diesem hier im Auge zu behalten?
Wie quantifiziert man "Spielgefuehl"? Oder wie systematisiert man es auch nur, um dann darauf einzugehen? Wessen "Spielgefuehl" soll ausschlaggebend sein? - Das ist eben nicht so ganz trivial.
Ueber jedes System gibt es schliesslich Klagen. DSA 4 ist nicht differenziert genug, DSA 3 war zu differenziert... Wem soll man es jetzt recht machen?
Am besten bietet man wohl einen "Baukasten" an. Wenn man ziemlich gut ist, kann man sogar noch ein paar kleine Werkzeuge dazutun und sagen: "Bearbeitet damit, was Ihr im Kasten vorfindet, bis es Euch optimal passt." Dann koennen die Bastler sich etwas zurechtbasteln, die Konsumspieler sich was aussuchen und die Minimalisten alles in den Kasten zurueckverbannen, was ihnen nicht gefaellt. Damit hat man es immer noch nicht allen recht gemacht, aber schon ziemlich vielen ;-) . Aber das ist ein arger Haufen Arbeit, und dann machen einem die "Grossen" Konkurrenz, die teils mit ganzen Arbeitsgruppen an ihren Baukaesten feilen. Dagegen ist schwer anzukommen...
Insofern denke ich, man sollte Spiele fuer das eigene Spielgefuehl schreiben. Mein Spielgefuehl ist eindeutig das, fuer alles eine Regel haben zu wollen, die man anwenden kann, wenn man mag. Das ist halt nicht "mal so eben" zu machen, und ein Baukasten mit vielen Teilen, die trotzdem im grossen und ganzen zusammenpassen sollen, ist aufwendig zu produzieren. Aber dafuer koennen, wenn alles gutgeht, die Liebhaber von Ballast sich dann notieren, was ihnen passend erscheint, und die anderen muessen nicht, wenn sie nicht wollen.