Ich persönlich habe es immer so gesehen, dass die "Runnerszene" auf der einen Seite dem labilen Gleichgewicht der Macht zwischen den Konzernen und den Regierungen dient, sozusagen als Element im einem Kalten Krieg, der vor allem zwischen den Konzernen geführt wird. Die andere Seite ist, dass man mit Hilfe der Runnerszene "getriebene Rebellen" (um mal Monkey McPants' Begriff zu übernehmen) bzw. Cyberpunks (William Gibson lässt grüßen, vor allem in der 1st und 2nd Edition) unter Kontrolle bringt und ihre gegen die Konzerne gerichtete Einstellung in für die Konzerne vorteilhaftere Bahnen zu kanalisieren versucht.
Die "Runnerszene" war in meinen Augen schon immer zumindest teilweise konzerngesteuert, in einigen Büchern, Regelwerken und Quellenbänden finden sich da entsprechende Andeutungen. Man nehme einerseits Gerüchte wie "Damien Knight = FastJack" oder andererseits den Roman "Schattenspiele" von Nigel Findley, wo die Hauptfigur Sly die Frage aufwirft, welcher Konzern eigentlich Shadowland betreibt. Die Freiheit und das "Rebellenimage" der meisten Runner sind entweder nur Selbstbetrug oder Naivität (man will nicht wahrhaben, dass man nur ein Bauer auf dem Schachbrett der Konzerne ist, oder ist einfach zu naiv um es zu schnallen), auf diese Weise bekommen die Konzerne ihre "Deniable Assets" und die "Cyberpunks" eine Illusion von Freiheit und Widerstand.
Natürlich tanzen Runner mal aus der Reihe, bemühen sich ernsthaft, einem Konzern zu schaden. Entsprechende Subjekte werden jedoch meistens von den Konzernen liquidiert und normalerweise kräht in der Runnerszene kein Hahn danach - wenn er es doch täte, gäbe es an der nächsten China-Mann-Bude "Runner nach Sezuan Art". Manchmal haben Rebellen gegen das System auch Erfolg, aber dann sind es meistens "Big Damn Heroes" (hab in letzter Zeit zuviel Serenity RPG geleitet...), die nebenbei auch noch von einer mächtigen Partei (Drache, Totem, Konzern... sucht Euch was aus) aus irgendwelchen Gründen unterstützt werden - Beispiel Samuel Verner und/oder Dodger, die in gewisserweise mächtige "Gönner" haben, die ihnen ein klein wenig Rückendeckung verschaffen. Aber ich schweife ab...
Ich sehe das Problem weniger in der Welt an sich, sondern mehr im Spielstil und der Entwicklung des Genres, in das Shadowrun fällt.
Zum Thema Spielstil: Die gute alte Methode "Plan A schlägt immer fehl, Plan B endet immer gewaltsam!" kann das Spionage-Feeling von Shadowrun schon gehörig den Bach runtergehen lassen, den plötzlich ist "True Lies" das Thema oder ein James-Bond-Film und nicht ein Suspense-Agenten-Film. Ausserdem können Spielleiter, die IRL die Wissensfertigkeiten Sicherheitstechnik, Sicherheitsprozeduren und Militär recht hoch haben (
, sich also aufgrund von Job und Vergangenheit IRL damit auskennen) und dieses Wissen bei dem durchschnittlichen Shadowrunspieler vorraussetzen, sehr anstrengend sein - vor allem dann, wenn sie jeden noch so kleinen Fehler der Spieler bestrafen und man dadurch regelmäßig bei Plan B landet (siehe oben).
Die Entwicklung des Genres ist von den achtziger Jahren vom schmutzigen, leicht endzeitlichen
"GIBSON'oiden" Cyberpunk zu etwas, dass ich gerne als blankpoliertes
High Cyberpunk oder
Neopunk bezeichne, abgelaufen. Viele Elemente, die das "originale Setting" (1st und 2nd Edition) ausmachten, sind verschwunden und die nahe Zukunft wird generell bevorzugt eben blankpoliert betrachtet. Das ist einfach eine Entwicklung in der Sichtweise der Medien, die sich natürlich auch in den Rollenspielwelten niederschlägt (und damit auch in der Welt von Shadowrun), eine Entwicklung, die bei Shadowrun IMHO mit der 3rd Edition einsetze.
Was kann man also tun? Drei Möglichkeiten sehe ich da:
1. Man legt Shadowrun beiseite und lässt es bleiben.
2. Man macht sich keinen Kopf und spielt es so, wie es daher kommt.
3. Man passt die Welt oder die Spielweise an, sucht sich gleichgesinnte und spielt auf seine eigene Weise. Dabei kann man die Welt etwas cyberpunkiger, "GIBSON'oider" gestalten bzw. interpretiert - oder man spielt keine Runner, sondern zum Beispiel nach dem Schema von "Ghost in the Shell - Stand Alone Complex" eine Regierungs- oder Konzernbehörde nach dem Vorbild von "Section 9", die etwas ausserhalb des Gesetzes gegen Bedrohungen für den Staat bzw. für den Konzern vorgeht.
Welchen Weg man einschlägt, muss jeder für sich selbst einscheiden. Aber eines bleibt am Ende noch für mich zu sagen: Für völlig unrealistisch halte ich Runner bzw. die "Runnerszene" nicht, da
a.) es sich bei Shadowrun um Fiktion mit dem "Was wäre wenn...?"-Faktor handelt
b.) die Entwicklung unserer heutigen Gesellschaft, der Regierungen und der Konzerne durchaus in Richtung eines Cyberpunk-Szenarios geht (Lobbyisten, die auf die Politik Einfluß nehmen oder die von Spicy McHaggis bereits erwähnten PMC's)
Just my 2 cents...