Moin
Wie gesagt, hab ich mal in einer halben Stunde für den Envoyer zusammen gelötet und bezieht sich eher auf SR-spezifische Problemstellungen, aber schaden kanns ja nicht.
Ohne Schmidt und Johnson
Von Jens Ullrich
Der Aufhänger ist immer der gleiche. Der Schieber ruft an, man solle sich mit einem Herrn Schmidt in einem Hinterzimmer oder irgendeinem anderen Ort treffen, um dort einen Job anzunehmen. So beginnt der typische Shadowrun. Aber soll und muss er das?
Im Gegensatz zu vielen anderen Spielsystemen ist Shadowrun sehr fixiert auf den Arbeitsauftrag als Abenteueraufhänger. Die Charaktere sind mehr oder weniger professionelle Kriminelle, die für eher weniger als mehr vertrauenswürdige Mittelsmänner schmutzige Jobs erledigen und ansonsten kaum einen Finger krumm machen. Wie soll man solche Leute sonst in ein Abenteuer bekommen?
Der Schlüssel hierzu ist die Motivation.
1. Geld
Was fällt einem bei Motivationen von Runnern als erstes ein? Nuyen. Entweder direkt auf einem virtuellen Konto oder einem Credstick, oder in Form von Waffen, Foki, Cyberware, Drogen oder anderen Goodies. Genau dafür erledigen Runner ihre krummen Geschäfte im Auftrag ihres Schmidts, warum also sollten sie das nicht auch ohne einen Auftraggeber tun?
Der Aufhänger hier ist im Zweifelsfalle guter, alter Diebstahl. Wenn die Charaktere mitbekommen, dass ihr heiß ersehntes Spielzeug nächste Woche an einen Bodyshop in St. Pauli oder einen Thaumaturgen in Heidelberg geliefert werden soll, dürfte das den einen oder anderen anspornen mal auf eigene Rechnung zu arbeiten.
Wenn das Objekt der Begierde jedoch nicht direkt „verwertbar“ ist, sondern versilbert werden soll, kann das wirkliche Abenteuer sogar erst nach dem eigentlichen Diebstahl beginnen. Denn einen echten Chagall, ein hochgezüchtetes Rennpferd oder einen taubeneigroßen Diamanten dürften die meisten Schieber gar nicht erst verkauft bekommen, was die Suche nach einem entsprechenden Hehler oder Zwischenhändler nicht ganz einfach gestalten dürfte. Sinnvollerweise sollte man diese Suche zwar vor dem eigentlichen Beschaffen erledigt haben, aber manchmal macht Gelegenheit einfach Diebe.
2. Gefühle
Auch wenn es genug Spieler gibt, die ihren Runnern kaum bis gar keine Gefühle zuschreiben, sollen emotional agierende Runner durchaus schon beobachtet worden sein. So kann es durchaus sein, dass Charaktere aus Liebe, Rach- oder Eifersucht allerlei Bockmist bauen, zum Beispiel für eine Geliebte, für die eigenen Kinder oder sonst wie emotional wichtige Personen der Charaktere. Ob nun die Mutter schwerkrank ist und dringend eine grade erst neu entwickelte Behandlungsmethode benötigt oder die neue Liebschaft mit den schicken und sündhaft teuren Designercyberarmen aus der Auslage des Body Art liebäugelt, professionelle Kriminelle sollten hier ihre ganz eigenen Beschaffungswege kennen. Vielleicht durchkreuzt aber auch irgendein vorwitziger Schamane immer wieder die Jobs der Runner, um die Magierin der Gruppe zu beeindrucken, oder ein Exec hat auf Novacoke den Bruder des Hackers überfahren, was Rache als Motivation sehr schnell ins Spiel bringen dürfte.
3. Connections und Freunde
Üblicherweise wollen Runner etwas von ihren Connections. Was also spricht dagegen, wenn das Spiel auch einmal anders herum laufen sollte? Möglicherweise traut sich der Hacker, der sonst immer seinen Kopf für die Runner hinhalten muss, nicht, ein Mädel anzusprechen, in das er verschossen ist, und bittet die Runner da etwas zu arrangieren. Dumm nur, dass sie ausgerechnet jetzt von einer echten Showgröße abgeschleppt oder grade von den Tongs entführt wird. Dieses Spiel lässt sich natürlich für andere Connections fast beliebig weiter treiben. Verschwundene Verwandte, gestohlene Daten oder andere Bitten und Freundschaftsdienste sollten eine Menge Stoff für Abenteuer bieten.
4. Feinde
Ein guter Feind kann das Rückgrat einer ganzen Kampagne sein. Wichtig hierbei ist, dass seine Motive schlüssig sind und er zumindest zu Anfang am besten gar nicht erst persönlich in Erscheinung tritt. Grade wenn er motiviert ist sich für Taten der Charaktere zu rächen, kann die ganze Angelegenheit für alle Beteiligten eine sehr persönliche Note bekommen. Vielleicht haben die Charaktere ja bei einem ihrer Runs den Lieblingsneffen eines karibischen Drogenbarons umgebracht. Er selbst ist zwar weit weg vom Geschehen, schickt aber seine Leute aus, um den Tätern das Leben zur Hölle zu machen. Sein Ziel ist dabei praktischerweise nicht der simple Tod der Charaktere, sondern ihnen nach und nach alles zu nehmen, was ihnen wichtig ist. Somit kann man sukzessiv ein Szenario der Bedrohung aufbauen, ohne nacheinander die Charaktere umzubringen oder immer wieder Mordanschläge scheitern zu lassen. Wenn dieser Drogenbaron auch noch einen Petrohougan zu seinen Freunden zählt und seine Leute die Charaktere aufstöbern und ihre Wohnungen auf den Kopf stellen konnten, dürfte Terror durch Ritualmagie nichts mehr im Wege stehen. Besonders interessant könnten dabei Zauber wie Traumsequenz oder Beeinflussen sein. Mittelfristig werden sich die Charaktere dem Problem annehmen müssen, da der Baron durchaus Mittel und Motivation hat, den Runnern immer mehr nachzusetzen, was sogar in einen Trip in die Karibik und ein Katz-und-Maus-Spiel unter der karibischen Sonne münden kann.
5. Ethik und Moral
Die Welt ist hart und schmutzig, und entsprechend sind viele Charaktere abgestumpft und verroht. Viele, aber zum Glück nicht alle. Daher sollte es immer noch einige wenige geben, die gegen die Ungerechtigkeiten und die Schrecken der sechsten Welt antreten, wenn sie sich in ihrer Nähe ereignen. Wenn die Yakuza thailändische Mädchen im Keller des heruntergekommenen Mietshauses hält, in dem einer der Charaktere einen seiner Unterschlupfe aufgebaut hat , um sie als Schauspielerinnen an einen Ring von perversen BTL-Produzenten zu verkaufen, könnte das den einen oder anderen Charakter dazu veranlassen, über seinen Schatten zu springen und Profit Profit sein zu lassen. Dass die Yakuza wiederum eine solche Einmischung überhaupt nicht witzig findet und an solchen Hoodern nur zu gern ein Exempel statuieren möchte, ist nicht ganz unwahrscheinlich. Hieraus kann sich wiederum auch ein neuer, mächtiger Feind entwickeln. Vielleicht ist einer der Charaktere aber auch politisch interessiert und gehört zu Neo-Anarchisten, Ökoterroristen oder anderen Gruppierungen, die ihre ganz eigenen Beweggründe haben. Das bietet sich für Aufhänger aller Art natürlich ganz besonders an.
6. Zufall
Manchmal hat man einfach Glück, oder Pech, und es drängen sich Personen oder Probleme in das Leben, ohne dass man so recht weiß woher sie kommen oder warum genau sie bei einem gelandet sind. Das beginnt beim klischeehaften Koffer, Paket oder Findelkind vor der Haustüre, führt über Erpresser, Stalker, Fanboys oder verzweifelte Nachbarinnen im Bademantel bis hin zum Gestaltwandler in der Wohnung, der sich für seine wenn auch zufällige und unplanmäßige Rettung aus einem Labor beim letzten Run bedanken will und gleichzeitig darum bettelt, dass seine neuen Freunde sein Herrchen aus der Gefangenschaft bei den hiesigen Triaden befreien, die aus ihm das Rezept für die ewige Blume heraus quetschen wollen. Da Zufälle an sich weder von den Charakteren noch von NSCs bewusst herbeigeführt werden, sind die Motivationen für die Runner natürlich oft genug sehr gering, sich um die sich daraus entwickelnden Probleme zu kümmern.
Die Charaktere
Natürlich steht und fällt das ganze Spiel mit den Spielern und Charakteren. Jeder der oben genannten Aufhänger und Plotideen funktioniert nur so gut, wie er von den Charakteren angenommen wird. Es kommt ganz auf den einzelnen Charakter an, ob er auf eine bestimmte Motivation überhaupt anspringt. Der beinharte Samurai kann genauso gut die Türe einfach wieder zu machen, wenn er ein Findelkind vor seiner Türe findet, während die Wicca das Kleine am liebsten adoptieren möchte, ganz egal, ob es sich dabei um die entführte Tochter eines Politikers handelt oder es mit MMVV infiziert ist. Es bedarf daher eines gewissen Einfühlungsvermögens, wie neugierig, aktiv und extrovertiert die einzelnen Charaktere sind, denen man die Abenteueraufhänger serviert, und es ist mindestens genauso hilfreich, die Hintergrundgeschichte der Charaktere zu kennen, da man auf diese häufig solche Abenteuer aufbauen kann. Bei ganz harten Fällen aus der Riege Ich habe keine Freunde und bewege mich nur, wenn man mich dafür bezahlt funktionieren Aufhänger um die Themen Gefühle, Ethik und Moral und Zufall selten bis gar nicht, während ein ablehnendes Verhalten gegenüber einer Connection zumindest dazu führt, dass eben diese ziemlich enttäuscht sein dürfte. Nichts desto trotz sollte man sich bewusst sein, dass es in diesen Fällen durchaus in Ordnung ist, wenn die Charaktere nicht auf die Abenteueraufhänger anspringen, und es daher überhaupt keinen Sinn macht, sie weiter damit zu traktieren oder ihnen direkt oder indirekt Sanktionen anzudrohen, nur weil sie nicht dem Plot folgen wollen. Flexibilität gehört nun einmal zum Handwerkszeug eines Spielleiters.
Außerdem macht es selbstverständlich Sinn solche Aufhänger nur zu verwenden, wenn die Charaktere bereits eine feste Gruppe gebildet haben und sich entsprechend vertrauen und vielleicht sogar untereinander befreundet sind. Denn warum sollte der Hermetiker andere Runner um Hilfe bitten, wenn seine Hackerconnection seit zwei Wochen nichts mehr von seinem Sohn gehört hat, obwohl er sie kaum kennt und ihnen noch weniger über den Weg traut? Privates bleibt 2070 eben allzu oft lieber privat und Vertrauen ist mehr wert als ein fetter Credstick.