Moin,
ich wollte mal ein kleineres Essay hier einstellen und der Diskussion preisgeben. Grundsätzlich interessier mich, ob ihr ähnliche Erfahrungen gemacht habt und ob ihr meinen Standpunkt verstehen (oder zumindest ersichtlich finden) könnt.
Und los geht es:
Weg mit den Würfelnoder: Wie man vom traditionellen Rollenspiel zum freien Rollenspiel kommen kann
Zuerst hörte es sich für mich auch unmöglich an. Würfelloses Rollenspiel. Nicht, dass ich mich zu der Fraktion der Powergamer zählen würde, aber ein inniges Verhältnis zu den Würfeln hat man über die Jahre nun schon einmal aufgebaut. Aber in mehreren langen Diskussionen und besonders einer sehr langen an einem schönen Mittwochabend in meiner Küche, kam mir der Gedanke dann doch nicht so unmöglich vor. Wie ich, der mit D&D in der ersten Edition meine ebenso ersten, wackeligen Schritte im Rollenspiel gemacht habe, mich Schritt für Schritt vom System der Würfel und schließlich von dem System im Rollenspiel überhaupt verabschiedet habe, möchte ich nun kurz schildern.
Wie gesagt begann es mit D&D. In der ersten Edition waren die Regeln und damit der Systemteil dieses Rollenspiels für heutige Verhältnisse zwar noch gering, der Würfelaspekt war aber fest im System verankert und ich machte maximal eine negative Erfahrung mit einem würfellosen System. Ich spiele damals nämlich einen Kämpfer und zwangsläufig kam irgendwann die Situation, in der ich es für unfair erachtete, dass der Magier seine Zauber nur Ansagen musste und sie danach einfach klappten, während ich mich mit meinem W20 und dem Etw (Erforderlicher Trefferwurf, für alle die D&D nicht so gut kennen) herumschlagen musste. Natürlich griff hier der Systemteil der Regeln und ich konnte überzeugt werden, dass Anwendungen von Magie, die pro Tag rationiert, zusammen mit niedrigen Trefferpunkten dafür sorgten, dass der Magier mich am Ende des Tag brauchte und ich ihn am Anfang, wenn wir durch den Dungeon kommen wollten.
D&D blieb nicht das einzige Rollenspiel, dass ich spielte. Fast parallel begann ich DSA mit einer anderen Runde zu spielen und es lag auch sicher ein wenig an dem System von DSA, dass ich ab diesem Moment eine alte Hack’n Slay und eine immer mehr zum Erzählspiel tendierende Gruppe besaß. Mit dieser Entwicklung gingen mehrere Stufen einher, die ich im Nachhinein als langsames Abwenden vom Würfelrollenspiel sehen kann. Interessanterweise geschah dies dadurch, dass ich ein Würfelsystem wie DSA immer mehr von seinen Würfelwürfen reinigte.
Zuerst waren es nur kleine Revidierungen. Wir erließen ein paar ungeschriebene Gesetze gegen das Powergaming, die automatisch dazu führten, dass uns die exakten Werte auf dem Charakterbogen immer unwichtiger wurden. Wir wollten weniger Berechenbarkeit erzeugen und begannen damit heimliche Würfe des Spielleiters immer weiter auszubauen. Am Anfang hatte er nur Kampfwürfe heimlich geworfen. Dann begann es dann damit, dass alle wahrnehmungsbezogenen Würfe der Dramaturgie wegen ebenso heimlich durchgeführt wurden, damit die Spieler nicht mehr wussten, ob sie ihren Wurf geschafft hatten, bis schließlich fast alles heimlich vom Spielleiter ausgewürfelt wurde.
Da dies langfristig zu einer zu großen Spielverlangsamung wurde, gingen wir schließlich dazu über mehr und mehr Würfe ganz wegzulassen und nur noch die Charakterwerte als Referenz dafür zu benutzen, ob eine Aktion geglückt war. Ab diesem Zeitpunkt würfelten wir nur noch Situationen aus, die wirklich entscheidend waren und ließen den Rest so ablaufen, dass es je nach Wert einen durchschnittlich zu erwartenden Erfolg gab.
Mit steigenden schauspielerischen Fähigkeiten wurden dazu auch bald alle nicht körperlichen Handlungen ausgespielt und gleichzeitig mit dem Charakterwert verglichen. Zunehmend viel der Charakterwert dabei aber auch zurück, weil die Spieler die Werte steigerten und bei Charaktererschaffungen auswählten, die sie auch gut ausspielen konnten oder wollten. Körperliche Tätigkeiten wurden zumindest beschrieben, dann aber zumeist von dieser Beschreibung weniger Abhängig gemacht und wir verfuhren nach dem Prinzip, dass ein Charakter mit einem bestimmten Wert eine bestimmte Höchstleistung zu schaffen im Stande war und nur Qualitätsabzüge bei Handwerksfertigkeiten oder Geschwindigkeits- bzw. Ästhetikabzüge bei athletischen Fertigkeiten erwarten musste, wenn er unter Zeitdruck, in Ermangelung des richtigen Werkzeuges oder sonst wie Eingeschränkt war. Das einzige was wir noch rein mit Werten und Würfeln abarbeiteten waren die seltenen Kämpfe.
Wirklich bewusst wie problematisch diese Situation war, wurde mir erst im Nachhinein, als wir einen neuen Spieler kurzfristig in unseren Reihen aufnahmen. Er war ein bisschen Schüchterner und konnte nicht so frei reden wie die Anderen. Heute wirkt es auf mich wie die eindeutigste Wahl, dass er sich einen Krieger erstellte und außer seinen Kampftalenten fast alles andere vernachlässigte. Wir trennten uns wegen unterschiedlicher Spielansichten irgendwann wieder, aber ich möchte diesen Fall exemplarisch veranschaulichen: Natürlich wählte er den Krieger, weil er sich bei einem Krieger hinter der Sicherheit der Werte und Würfel verstecken konnte. Er konnte nicht verlieren, da er maximal Würfelpech haben konnte und somit nie für seinen Charakter persönliche Fehlentscheidungen machen konnte. Dies beeinflusste aber auch seinen Spielstil: Wo es für andere Spieler schon eine spieltechnische Niederlage war von der Herzensdame abgelehnt zu werden, seinen Ruf in der adeligen Führungsschicht zu verlieren oder eine künstlerische Schaffenskrise zu haben, war für ihn die einzige Möglichkeit, die ihm Angst machte, der Tod im Kampf. Natürlich aus Würfelpech. Entsprechend dazu war für ihn jedes Abenteurer langweilig, in dem es keinen Kampf gab, der die Fertigkeiten seines Charakters an die Grenzen führte. Ich merkte, wie gefährlich unserer Spielstil war, weil man durch diese Form des Spiels alle sozial nicht so sicheren Personen gleich zu Kampfmaschinen erzieht. Ich fand aber auch keine Lösung, den Kampf als regeltechnische Sonderform im Rollenspiel, und damit als Zerreisband der Spieleinstellungen, zu entfernen. Im Kampf auf Würfel zu verzichten erschien mit unbalanciert und unfair für einen eventuellen Toten, da er ja nichts „dagegen machen konnte“, wenn er nicht würfeln durfte. Außerdem wurde in dem Moment, in dem man den letzten Würfelwurf aus dem Spiel entfernte, das Wertesystem obsolet, da man sie nicht mehr brauchte, um auf irgendetwas zu würfeln. Im Folgenden habe ich die drei Hauptfragen, die mir bei einem werte- und würfellosen Rollenspiel zuerst Kopfschmerzen bereiteten, aufgelistet und mit meiner heutigen Sicht der Dinge beantwortet.
Wie kann man die Balance der Charaktere erhalten, ohne dass Einer/ Alle zu mächtig werden?In einem freien Rollenspiel ist die Fragen, ob alle Spieler zu mächtig werden eigentlich nicht mehr gegeben. Da man keine Gegner mit festgelegten Werten hat, die für die Charaktere einer bestimmten Stufe ausgelegt sind, kann man die Herausforderungen für die Spieler sehr frei einteilen. Sind sie alle mächtig, so sind ihre Herausforderungen nun einmal auch gewaltig, sind sie durchschnittlich mächtig, müssen sie sich auch mit den normalen Herausforderungen einer Welt in der sie leben herumschlagen.
Bei einem einzelnen Charakter ist diese Frage schon um einiges berechtigter und es ist durchaus richtig, dass viele Rollenspiele lange Testphasen und viel Energie in das Balancieren der Möglichkeiten unterschiedlicher Spielertypen legen. Grundsätzlich muss man aber anmerken: Balance ist immer Kopfsache! In einem Wertesystem ist es unfair wenn ein Charakter für denselben Aufwand in Generierungspunkten seine Kampffertigkeit auf die gleiche Stufe gehoben hat wie ein anderer sein Wissen um alte Sagen? Ein Magier ist immer stärker als ein Kämpfer? Nein. Es kommt doch auf die Umgebung an. Natürlich kann ein guter Kämpfer einem Künstler leicht die Harke zeigen und wird ihn sicher auch leicht töten können. Aber ist das die Frage der Balance? Auf der anderen Seite wird dieser Kämpfer in einer normalen Kneipe eine solche Aktion wahrscheinlich niemals wagen, da er sonst sofort festgenommen würde und in der üblichen sozialen Situation wird der charismatische und weltgewandte Charakter dem Klischeekämpfer sehr eindeutig zeigen können, was er für Türen öffnen kann. Genauso ist es mit Magiern. Wie akzeptiert ist ihre Magie in der Öffentlichkeit? Was mussten sie für ihr tiefes Verständnis der Magie an anderen Fertigkeiten hinter sich lassen? Es kommt also auf die Ausgeglichenheit der Hintergrundwelt und der Abenteuer an, inwieweit ein bestimmter schlag von Abenteurern bevorzugt wird oder nicht. Natürlich kann man immer sagen, dass das Problem bei einer wertefreien Charaktererschaffung ist, dass jeder Spieler schön, schlau, schnell und stark sein will. Dieser Ansatz vertraut den Spielern aber viel zu wenig. Ich bin mir sicher, dass alle Spieler wissen, was ein übertriebener und in der bespielten Welt nicht angemessener Charakter ist und was nicht. Außerdem ist es ohne Werte und Regeln viel einfacher für einen Spielleiter zu erkennen, wenn ein Charakter etwas zu gut in allem ist, als wenn ein Spieler still und heimlich sich hinter den Regeln verstecken und Lücke in ihnen ausnutzen kann. Ich bin ein Vampirhalbdrache mit der Klassenkombination Krieger/Barbar/ Frenzied Berserker! Was guckst du mich so an? Das ist von den Regeln her erlaubt! Ja, aber wenn es keine Systemregeln gibt, die man verbiegen kann, bis sich die Designer im Bett umdrehen, dann werden solche Charakterkonzepte gleich ausgegliedert.
Das gleiche gilt auch bei der Entwicklung der Charaktere. Solange man sich noch an die Abenteurer erinnern kann, die ein Charakter hinter sich hat, kann man viel genauer bewerten, wie viel Erfahrung er in einem gewissen Bereich schon angesammelt hat, als wenn man in irgendwelchen Steigerungstabellen nachschaut wie hoch ein bestimmter Wert in einer bestimmten Stufe sein darf und wie viele Punkte man je Stufe bekommt. Man sollte sich eigentlich darüber freuen so etwas wie eine Entwicklungsfreiheit zu erhalten, da ein Wertesystem immer nur ein strenges Raster anbieten kann um diejenigen zu zügeln, die kein wirkliches Gefühl für ihren Charakter haben.
Wie kann man die Fairness bei Auswertungen von Handlungen erhalten?Wieder eine Frage der Balancierbarkeit. Grundsätzlich kann man diese Frage relativ leicht beantworten. Als ein Bespiel das wohl kontroverseste Thema: Ein Kampf (Natürlich könnte man auch eine tödliche Kletterpartie, ein rasantes Rennen oder eine andere Handlung mit einem potentiell sehr radikalen Ende beobachten).
In einem freien Rollenspiel könnte ein Kampf zum Beispiel damit beendet werden, dass der Spielercharakter von seinem Widersacher zu Boden geschlagen wird und dieser ihm mit höhnischem Lachen die Hände bindet. Der Spieler ist gefangen genommen worden!
Ist dies Unfair? Eigentlich nicht. Natürlich hat man in einem traditionellen System ein paar Würfel um sich vor dieser Situation zu retten und würfelt diese dann auch fleißig. Trotzdem kann die gleiche Situation wie oben beschrieben genauso gut in einem traditionellen Rollenspiel eintreten und dort findet es plötzlich keiner mehr unfair. Die Frage ist warum. Ich weiß, dass sich viele Runden darauf geeinigt haben, dass der Spielleiter aus dramaturgischen Gründen schummeln darf um z.B. einen Spielertod durch reines Würfelpech zu verhindern. Genauso kann der Spielleiter sich aus dramaturgischen Gründen aber auch gedacht haben, dass ein Festnahme des Spielers gut wäre und fängt dann während eines Kampfes an heimlich an den Würfelergebnissen herumzumodeln um diesen Zustand herbeizuführen, indem er mal ein Schadenspunkt mehr einbaut, den Widersacher häufiger als gewürfelt treffen lässt oder seine defensiven Fähigkeiten leicht überreizt. Von solchen Situationen gibt es mehr als genügend und sie werden stillschweigend akzeptiert. Die Frage ist nun wiederum warum sie akzeptiert werden, denn in einem normalen Gesellschaftsspiel wird schummeln ja normalerweise nicht akzeptiert. Dies kann man einfach Vertrauen nennen. Die Spieler vertrauen dem Spielleiter weil sie zusammen eine schöne Geschichte erzählen wollen und warum sollten sie dieses Vertrauen nicht auch haben, wenn der Spielleiter keine Würfel verdeckt hinter einem Spielleiterschirm würfelt, nur damit seine Spieler das Klackern hören, das Ergebnis sich aber schon vorher gedacht hat?
Kann die Spannung denn ohne Würfel erhalten werden?Ja, sie wird sogar intensiver, da man sich immer anstrengen muss um eine Handlung zu schaffen. „Ich hau mal drauf“ oder „Ich werf’ das Seil rüber“, reichen nämlich nicht mehr, da man keinen Würfelwurf mehr hinterher schieben kann, der alle Fragen klärt. Man muss die Situation genauer betrachten, dem Spielleiter mehr Fragen stellen und sich allgemein viel tiefer in die Situation hineinversetzten um eine Handlung beschreiben zu können, die den Würfelwurf ersetzt und nicht nur einleitet. Man sollte immer im Hinterkopf behalten, dass die Beschreibung der versuchten Aktion darüber entscheidet, ob man sie schafft. Die Spannung entsteht hier gerade darin, dass man keine Vorhersehbarkeit hat. In traditionellen Systemen kann man häufig sehr genau berechnen was man ungefähr würfeln muss um einen erfolg zu erzielen und wie schmerzhaft es werden könnte, wenn einem die Handlung misslingt.
Dazu nur ein kurzes Beispiel: Ich spielte eine Demorunde von Unknown Armies (kein würfelloses Rollenspiel), hatte jedoch keine Ahnung von den Werten und Parametern die in diesem System herrschten. Ich wusste, dass ich ein paar Trefferpunkte hatte und einen Art Widerstandswert und die Fertigkeiten hatten einen Prozentwert. Als aber ein Verrückter meinem komplett unbewaffneten Charakter eine Knarre an den Kopf hielt, kam ich richtig ins Schwitzen, weil ich keine Ahnung hatte, wie viel Gehirnmasse mir ein Schuss wegblasen konnte. Also reagierte ich, wie ich auch in Echt reagiert hätte. Ich wollte es verdammt noch einmal nicht darauf ankommen lassen meine Widerstandsfähigkeit zu testen und begann damit auf den Kerl einzureden, da er scheinbar besessen oder zumindest geistig stark verwirrt war. Da mein Charakter ein selbsternannter Messias war, rechnete ich ihm keine sinnvollen Kampffähigkeiten an und entschied, dass reden das Beste war. Interessanterweise schaue ich während der gesamten Szene nie auf meinen Charakterbogen und es hätte „Unbewaffneter Nahkampf 80%“ auf ihm stehen können, ich wollte einfach nicht von einer Pistole getroffen werden. In einem System in dem ich gewusst hätte, was für ein Schaden eine Pistole anrichtet und wie hoch meinen Chancen gewesen wären, sie dem Kerl aus der Hand zu schlagen hätte ich es vielleicht versucht, auch wenn es nicht zu dem Charakter des Messias passte.
Ich hoffe, dass ich mit meiner Abhandlung ein paar Leuten vielleicht geholfen habe sich selber (und andere) davon zu überzeugen, dass die festgefahrenen Muster, die im Rollenspiel eingeschlagen wurden doch nicht die einzigen sind und freie Rollenspiele zumindest eine gleich gerechte und spannende Alternative zu traditionellen Rollenspielen sein können.
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