@ cmdlightning
Zurzeit verstehe ich Dich so, dass Du eine Skala einführen möchtest, auf der die durch die Spieler empfundenen Spielerleitereingriffe abgetragen werden. Zwangsfreiheit liegt vor, wenn die Spieler sich frei fühlen. Railroading liegt vor, wenn die Spieler sich nicht frei fühlen. Und Illusionismus liegt vor, wenn der Spieler eine Wahrnehmungstendenz hat, sich irgendwann gerailroadet zu fühlen.
Willst Du das subjektiv wahrgenommene Spielleitereingriffsverhalten betrachten?
Ich glaube, Deine Antwort wird nein sein.
Ich glaube, die Antwort sollte ja sein. Denn nur das, was die Spieler subjektiv wahrnehmen, ist für sie relevant (bzw. Teil des SiS, kann man das so sagen?).
In der Psychologie (zumindest in einer der Hauptströmungen) geht man davon aus, dass die Art der Motivation, die eine Person in einer bestimmten Situation hat, entweder intrinsisch, also grob gesagt freiwillig, ohne Druck/Einschränkung von außen aus Spaß an der Tätigkeit, oder eben extrinsisch ist, d.h. du tut etwas nur, weil irgendjemand oder -etwas Druck auf dich ausübt oder dich belohnt- auf alle Fälle begeht man die Handlung eben nicht, weil man Spaß an der Handlung selbst hat, sondern um ein Ziel, das damit nichts zu tun hat zu erreichen.
Aufs Rollenspiel bezogen heißt das:
Ein SL der Druck auf mich ausübt, etwas zu tun, was meinem Verständnis von Rollenspiel widerstrebt, dem leiste ich nur Folge, weil ich ein anderes Ziel als wichtiger empfinde, als meine Vorstellung von Rollenspiel (z.B. Agenda, aber auch innere Konsistenz einer Welt) - durchzusetzen. So ein beispielsweise Ziel könnte das Vermeiden von Streit oder Diskussionen in der Spielergruppe sein. Aber selbst wenn ich dem Folge leiste, meine Freude an der Tätigkeit an sich wird dadurch geringer.
Soweit der erste Streich. Zusammengefasst:
etwas aus Spaß, freiwillig und um der Handlung selbst wegen tun = intrinsische Motivation --> Zwangfreiheit, Idealzustand
etwas tun, weil man eigentlich etwas anderes erreichen/vermeiden will = extrinsische Motivation --> Bäh!
Ganz so einfach ist es aber dann doch nicht.
Man stelle sich jemanden vor, dessen Lebensglück es ist, wenig zu essen und den ganzen Tag zu rudern. Dieser jemand wäre der glücklichste Rudersklave der Welt. Warum? Das was andere Menschen als Zwang (bzw. "extrinsische Motivation") empfinden, nimmt er nicht als solche war, er muss nicht zum rudern gezwungen werden.
Moral von der Geschichte des glücklichen Rudersklaven: Ob dich etwas einschränkt, hängt nicht davon ab, ob man es als Einschränkung wahrnimmt. Alles andere ist irrelevant.
In der Motivstionsforschung nennt man den entscheidenden Faktor "Perceived Locus of Causality (PLoC)", bzw, Ort der Handlungsverursachung. Bei intrinsischer Motivation ist das klar, da liegt in einem selbst. Bei der extrinsischen dagegen kann er von außen kommen, oder aber auch aus einem selbst, dann aber wir die nicht mehr als Einschränkung wahrgenommen (wir sind wieder beim Rudersklaven). Daraus ergeben sich dann 5 Stufen der subjektiv empfundenen Autonomie (Hängt euch nicht an den Namen auf - wenn jemandem was griffigeres für den Alltagssprch einfällt, gerne)
(1) Externale Regulation - Railroading
Vollständige Fremdbestimmung, PLoC liegt völlig außerhalb eines selbst, keinerlei Autonomie bzw. Freiwilligkeit auf seiten der Spieler. Der SL blockt offensichtlich und GEGEN DEN WILLEN DER SPIELER mehrere Lösungsansätze oder baut Erzählpassagen ein. In RPG-Theorie gesprochen: Faktisch ein Bruch des Gruppenvertrags. Betreibt ein SL Illusionismus und fliegt auf, fällt das auch in diese Kategorie.
(2) Introjizierte Regulation
Hier wird kein offensichtlicher Druck von außen ausgeübt, die Spieler haben die Schere aber sozusagen im Kopf, d.h. sie fügen sich GEGEN IHREN WILLEN einem bestimmten Lösungsweg, den der SL durchsetzen will, allerdings ohne offensichtliche Einschränkungen wie direkte Erzähleingriffe. Unter den Bereich fallen m.E. auch das Erschweren bestimmter Proben (cmds Flussbeispiel), wenn unerwünschte Wege verfolgt werden. Kein richtiger Bruch des Gruppenvertrags, aber trotzdem Fremdbestimmung.
(3) Identifizierte Regulation
Obwohl man eigentlich gerne etwas anderes machen würde, wird Verhaltensweise an den Tag gelegt, weil sie persönlich als sinnvoll und notwendig betrachtet wird. z.B. Spieler folgen dem Plothook des SL, damit das AB laufen kann, obwohl andere Handlungen ähnlich plausibel wären. Lord Verminard hat dazu glaub ich schon viel geschrieben. Die Spieler fügen sich hier aus eigenem Willen, und handeln selbstbestimmt, ohne sich groß eingeschränkt zu fühlen. Beim Spiel ohne SL wäre das sowas wie man legt eine Situation nicht nur zu seinem Vorteil aus, sondern auch mal selbstloser,so dass andere glänzen können (hab da aber keine Erfahrung, evtl. hat jemand auch ein besseres Beispiel aus dem Bereich)
(4) Integrierte Regulation - der glückliche Ruderer
Kontrolle/Einschränkung exisitert zwar, wird aber nicht als solche empfunden. Hier wäre dann auch der Partizipationismus (aber auch der (noch) unerkannte Illusionismus) anzusiedeln. Auch man einen SL akzeptiert bzw. im Idealfall alle Konventionen des Gruppenvertrags fallen in diesen Zustand. Alle Regeln und Vorgaben sind zu einem eigenen Verhaltensmuster geworden. Die Spieler sind um des Spiels willen motiviert, zu spielen, d.h. sie haben Spaß am Rollenspiel. Welcher Art der zustande gekommene Gruppenvertrag dann ist (SL darf Erzählpassagen einbauen, es gibt keinen SL, es wird nicht gewürfelt, es wird dasunddas System gespielt, whatever), ist irrelevant.
(5) Rein intrinsische Motivation - totale, objektive Zwanglosigkeit
Sozusagen der unerreichbare Idealfall- nichts wird als Einschränkung empfunden, weil es auch tatsächlich keine Einschränkung wie Regeln etc. gibt - das heißt aber auch: keine Einflussmöglichkeiten.
Das Selbstbestimmungsmodell hat drei Vorteile:
1. Es stellt einen klaren Zusammenhang zwischen Railroading, Illusionismus und Partizipationismus auf und gibt einem eine eindeutige Meßlatte an die Hand, ob eine Gruppe Spaß hat, oder nicht.
2. Es erklärt, wieso manche Leute mit SL mehr Spaß haben, und manche ohne, oder warum diesen dann manche Sessions mit SL besser gefallen, als manche ohne. Oder andersherum.
3. Es ist wissenschaftlich und wurde empirisch fundiert.
Um vorweg ein paar häufige Mißverständnisse auszuräumen:
Selbstbestimmung heißt nicht, dass die Spieler möglichst "empowered" sind, ohne SL mit viel Mitspracherecht usw., sondern, dass sie selbst bestimmt haben, welchen Grad an Empowerment sie ausüben wollen: Jemand der nur seinen SC spielen will, kann es als Zwang empfinden, die Umweltreaktionen (den SiS? ist das richtig?) auch noch mitzubeschreiben und vice versa.
Natürlich relativiert das Modell auch die Bösartigkeit von Illusionismus. Es mag für manche ethisch und moralsich fragwürdig sein, als SL trotz anderslautendem Gruppenvertrag Illusionismus zu betreiben, aber solange die Spieler nichts davon mitbekommen, macht es für ihre Motivation keinen Unterschied.
Das ändert sich natürlich, sobald sie den Illusionismus-Verdacht hegen. Natürlich kann das dann aber auch die die andere Richtung ausschlagen: Wenn es dumm läuft, und die Spieler unterstellen einem "ehrlichen" SL Illusionismus, dann macht das keinen Unterschied. Das soll aber nicht heißen, dass ich für Illusionismus bin.
Zuguterletzt noch was zur Praxistauglichkeit:
Selbstbestimmung entsteht grob gesagt durch drei Faktoren, die alle gegeben sein müssen, und auf die am Spieltisch Augenmerk gelegt werden sollte:
1. Autonomieempfinden (ich erlebe, dass ich Entscheidungen, die mir wichtig sind, selbst treffen kann)
2. Selbstwirksamkeit (ich erlebe, dass das was ich tue auch die gewünschten Auswirkungen hat - "i made a difference")
3. Soziale Anerkennung (ich erlebe, dass die Menschen um mich herum Notiz von mir nehmen, und mich respektieren, ohne mich kontrollieren zu wollen)
Was das ganz konkret heißt, welche Methoden bzw. Techniken dafür geeignet sind, oder nicht, das hängt immer von jeweiligen Gruppenvertrag ab.
So, ganz schön viel für den Einstand. Nehmt es mir nicht übel, wenn ich was in der RPG-Theorie nicht verstanden haben sollte, hab nich nicht alles verstanden, und mir auch noch kein festes Urteil darüber gebildet.
Und jetzt zerreißt dürft ihr mich zerreißen ;-)