Ich möchte mal für Abgründe im Rollenspiel plädieren. Für Abgründe und gegen "Das geht gar nicht", "das ist krank" und "DU bist krank". Ist mir einfach mal ein Bedürfnis.
Ich bin Erzählspieler. Ich möchte interessante Geschichten erzählen. Aber mehr noch, ich möchte alle Facetten des Menschseins beleuchten. Und dabei möchte ich nicht bei "Abenteuern" Schluss machen. Die sind eine mögliche Art von Geschichten, aber eben nicht alles.
Um es mal in Filmen zu sagen: Ich mögchte nicht nur "Stirb langsam" und "Herr der Ringe". Ich möchte auch "Vom Winde verweht", "Casablanca", "Panic Room", "Schindlers Liste", "City of God", "Falling Down" und "8 mm".
Ich will Protagonisten, die
- unschuldig sind und erwachsen werden
- das Richtige tun und Fehler machen
- von der Situation zum Äußersten getrieben werden
- schreckliche Dinge tun und diese bereuen - oder auch nicht
- irgedwie mit ihrem Leben fertig werden oder daran zerbrechen
- sich mit sich und ihren Problemen auseinandersetzen
- gute Argumente für ihre Grausamkeiten haben
- als Menschen beginnen und zu Monstern werden
- als Monster beginnen und sich ihre Menschlichkeit erkämpfen
- dabei grandios siegen oder grandios scheitern
Dazu gehört für mich auch, sich mit den Abgründen des Menschseins zu befassen. Wenn ich mich mit den Mitläufern der Nazizeit befassen will, muss ich mich mit den Gräueltaten befassen. Wie konnte ein liebender Familienvater jemals Menschen vergasen? Zur Beantwortung der Frage im Spiel muss ich mich mit den Abgründen befassen und die Spannung aushalten, die sich zwischen Abscheu und Verständnis aufbaut. Eben die Spannung, ein Mensch zu sein.
Und das Gleiche gilt auch für Ganggewalt, Geschlechterrollen und Sex, Liebe, Verrat, Folter für die Nationale Sicherheit, auf den Strich gehen, um das eigene Kind durchzubringen, ... Jede Menge menschlicher Themen. Unangenehme Themen. Und dennoch bringt es mir eine gewisse Befriedigung, mich mit diesen Themen zu befassen. Genau so, wie "Schindlers Liste" einem etwas gibt, auch wenn man danach nicht unbedingt zum Feiern aufgelegt ist.
Und wer das "krank" und "geschmacklos" findet, und mich "in seinem Hobby" nicht haben will, der sollte mal bei Shakespeare anfangen und sich langsam durch die Weltliteratur arbeiten. Da gibt es aus der Perspektive einige "entartete Kunst", die es sich zu verbrennen lohnt.
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EDIT:
So, der Thread ist wirklich lang und ausufernd geworden. Ich kann es keinem verübeln, wenn er das nicht alles lesen will. Also schreibe ich mein Fazit einfach auch hier hin.
Natürlich kann man gerne alles lesen um zu sehen, wie es dazu gekommen ist. Und mein Fazit dann auf Seite 6 lesen.
Ich wiederhole einfach mein Fazit:
Phantasie ist Phantasie. Und wenn die nichts mit der Realität zu tun hat (wie das beim Rollenspielen in mehr als 99,99% der Fälle gegeben ist), sind die Phantasien harmlos und schaden niemandem. Damit sind sie völlig in Ordnung, denn meine Ethik fußt darauf, dass nur das schlecht ist, was anderen schadet. Also, um es nochmal zu wiederholen:
Und damit mein Fazit zum Thema: Wenn jemand Vergewaltigungsphantasien im Rollenspiel auslebt, dann kann ich das eklig finden. Ich muss nicht mit ihm spielen wollen. Ich kann ihn auch unsympatisch finden. Whatever. Aber moralisch verurteilen darf ich ihn nicht. Denn damit macht man sich derselben Scheuklappenmentalität schuldig wie die BADD-Leute.
Und dann hänge ich noch ein schönes Medley von Vermi als Fazit dran (jaja, das hätten wir schon früher haben können...):
„Wenn Ihr etwas nicht versteht, dann muss es doch nicht auch gleich falsch sein.“
Der Punkt ist, dass es hier um Fiktion geht. Eine Phantasie ist niemals unrecht, solange der Mensch, der diese Phantasie hat, sich von ihr nicht verleiten lässt, die moralischen Maßstäbe seines realen Handelns zu verschieben. Die Gedanken sind frei.
Das Darstellen und Rezipieren solcher Phantasien, die als solche niemals Unrecht sein können, kann nach meinem moralischen Verständnis seierseits nur Unrecht sein, wenn andere Menschen dadurch in einem schützenswerten Gut beeinträchtigt werden. Das ist nun wiederum im Einzelfall äußerst differenziert zu betrachten.
Ich denke einfach, man sollte ehrlich urteilen, statt zu verurteilen, und man sollte sich hüten, am Maßstab einer willkürlich festgelegten Sittlichkeit zu messen, die letztlich Ausdruck einer verlogenen Doppelmoral ist, statt an echten, reflektierten Maßstäben von Anstand und Moral. Man sollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen und nichts unterstellen, sondern nachfragen. Man sollte nicht verallgemeinern und es sich nicht zu einfach machen, sondern differenziert betrachten - oder eben zugeben, dass man sich kein Urteil erlauben kann.