So, ich schreibe jetzt mal was über Mathematik. Und zwar Mathematik beim Würfeln. Weil ich denke, dass viele Leute keine Ahnung haben, was es mit der Varianz von Würfelwürfen auf sich hat. Häufig liest man ja:
"Mir sind 3W6 lieber als W20, weil die eine schönere Glockenkurve haben und die Varianz kleiner ist als beim W20. Weniger Varianz bedeutet weniger Zufallseinfluss." Das ist aber (zumindest für Unterwürfelsysteme) Unsinn.
Im Folgenden geht es um Unter- oder Überwürfelsysteme. Mathematisch ist das dasselbe, also nehme ich einfach mal Unterwürfelsysteme. Wenn man den Zielwert nicht übertrifft ist die Probe gelungen, ansonsten misslungen. Das war früher bei D&D so, das ist bei GURPS so und das ist bei den DSA-Eigenschaftsproben auch noch so. Nur mal um drei prominente Beispiele zu nennen. Andere Systeme, wie z.B. Poolsysteme, verhalten sich natürlich anders. Oder andere Systeme mit irgendwelchen Abstufungen (z.B. ab 5 drüber besonders gut geschafft, ab 10 drüber ganz toll geschafft usw.).
Zunächst mal die Begriffe, aber ganz unmathematisch. Der
Erwartungswert eines Würfels (oder auch mehrerer Würfel, z.B. 3W6) ist der Wert, den man im Mittel würfelt. D.h. wenn man unendlich oft würfelt und von den Ergebnissen den Mittelwert bildet, dann erhält man den Erwartungswert (den ich im übrigen oft auch einfach Mittelwert nenne). Da unendlich oft würfeln etwas umständlich ist, haben sich Mathematiker überlegt, wie man das auch anders bestimmen kann und für viele Situationen einfache Formeln entwickelt. Bei Würfeln verhält sich das so, dass man einfach (Seitenanzahl+1)/2 rechnen muss, also z.B. hat ein W20 einen Erwartungswert von 10,5. Ein W6 hat einen Erwartungswert von 3,5. Das tolle am Erwartungswert ist, dass er sich linear verhält, d.h. man kann Erwartungswerte einfach addieren und multiplizieren, wenn man das mit dem entsprechenden Zufallsexperiment auch tut. Also: 2W6 haben einen Erwartungswert von 2*3,5 = 7, W4+W10+W20 einen Erwartungswert von 2,5+5,5+10,5=18,5.
Die
Varianz ist sowas ähnliches wie der Erwartungswert der Abweichung des Ergebnisses vom Mittelwert. Das heißt: Hat ein Experiment eine große Varianz, so weicht das Ergebnis oft stark vom Erwartungswert ab. Hat das Experiment eine kleine Varianz, so ist es nah am Erwartungswert dran. Die Varianz für einen Würfel beträgt (Seitenanzahl*Seitenanzahl-1)/12. Somit hat ein W6 eine Varianz von 35/12 (=2.91) und ein W20 hat eine Varianz von 399/12 (=33.25). Auch Varianzen verhalten sich linear, wenn die Zufallsereignisse unabhängig sind. Wir gehen einfach mal davon aus, dass sich die Würfel gegenseitig nicht beeinflussen. Dann kommt man für 3W6 auf eine Varianz von 3*35/12=105/12 (=8.75).
Die mittlere Entfernung zum Erwartungswert ergibt sich aus der Wurzel dieser Zahl, der sogenannten Streuung. Das bedeutet, dass ein W6 eine Streuung von etwa 1,71 hat, ein W20 eine von 5,77. Die Streuung von 3W6 ist etwa 2,96.
Vergessen wir für einen Augenblick Erwartungswert und Varianz und überlegen, wie
Unterwürfelproben aussehen. Wir würfeln mit Würfeln (z.B. W20 oder 3W6) und müssen unter einem vorgegebenen Wert bleiben (bzw. dürfen ihn auch erreichen). Um rauszukriegen, wie wahrscheinlich das ist, müssen wir einfach nur die Wahrscheinlicheiten für alle Werte zusammenaddieren, die höchstens dieser vorgegebene Wert sind.
Beispiel 1:1. Wir möchten mit W20 höchstens eine 10 würfeln. Also addieren wir die Wahrscheinlichkeiten für 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10. Beim W20 ist das jeweils 5 %, also kommt man auf 50 %. Ich habe also in 50 % der Fällen einen Erfolg.
2. Wir möchten mit 3W6 höchstens eine 10 würfeln. Also addieren wir die Wahrscheinlichkeiten für 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10. Die sind recht kompliziert, zusammen ergeben sie aber auch 50 %. Ich habe also in 50 % der Fällen einen Erfolg.
Beispiel 2:1. Wir möchten mit 3W6 höchstens eine 15 würfeln. Also addieren wir die Wahrscheinlichkeiten für 3, 4, ..., 14 und 15 und erhalten 95 %.
2. Wir möchten mit W20 höchstens eine 15 würfeln. Also addieren wir die Wahrscheinlichkeiten für 1, 2, ..., 14 und 15 und erhalten 75 %.
3. Wir möchten mit W20 höchstens eine 19 würfeln. Also addieren wir die Wahrscheinlichkeiten für 1, 2, ..., 18 und 19 und erhalten 95 %.
"Und was hat jetzt die Wahrscheinlichkeit für eine Unterwürfelprobe mit Mittelwert und Streuung zu tun?"Richtig. Nichts. Oder besser: Nichts, was uns stört.
Was man an den obigen Beispielen sieht: Die Wahrscheinlichkeiten sind bei W20 und 3W6 andere. Aber gut, wenn ich in DSA einen Wert von 19 habe, so entspricht das eben einem GURPS-Wert von 15. Aber ob die 3W6 jetzt mehr oder weniger streuen als ein W20, stört mich dabei überhaupt nicht. Es kommt letztendlich
nur auf die Wahrscheinlichkeite an!
Ok, mit dem W20 kann ich leichter mal eine 18 würfeln. Wenn ich aber maximal eine 10 würfeln darf, ist das genauso daneben wie eine 11. Verkackt ist verkackt.
Ich kann also das GURPS-System auch mit W20 würfeln, allerdings muss ich dann die Werte anpassen. Eine 5 im 3W6-System entspricht einer 1 auf W20. 6 entspricht 2, 7 entspricht 3, 8 entspricht 5, 9 entspricht 7, 10 entspricht 10, 11 entspricht 12, 12 entspricht 15, 13 entspricht 17, 14 entspricht 18, 15 entspricht 19, 18 entspricht 20. Die Abweichungen der Wahrscheinlichkeiten sind so gering, dass ein normaler Spieler im Spiel keinen Unterschied merken würde.
Wenn man statt W20 auf W100 geht, kann man die Wahrscheinlichkeiten noch genauer einstellen, so dass man auch die Werte 3, 4, 16, 17 erfassen könnte.
"Aber macht die Streuung nicht doch einen Unterschied? Ich dachte immer, durch die Konzentration auf die Mittelwerte kommt nicht so viel Beliebigkeit rein."Leider falsch gedacht. Die Beliebigkeit ist erstmal die gleiche, denn es gibt ja nur gelungen und misslungen. Ok, wenn man die Werte etwas mehr interpretiert (also noch irgendwie unterschiedet in gut gelungen, besser gelungen, am besten gelungen), dann spielt die Streuung schon eine Rolle und hat gewisse Vorteile.
Allerdings gibt es bei den 3W6 auch einen gewaltigen Nachteil gegenüber dem W20: Die Wahrscheinlichkeiten sind alle unterschiedlich. Und warum ist das ein Problem? Ganz einfach: Weil Boni oder Mali bei Proben nicht mehr dasselbe aussagen. Angenommen, ich habe ein W20-Unterwürfelsystem. Die Mauer ist schwierig zu erklimmen und wird mit einem Malus von 3 versehen. Der Dieb hat einen Wert von 19, darf also höchstens eine 16 würfeln. Der Magier hat einen Wert von 10, darf also höchstens eine 7 würfeln. Zuletzt gibt es noch den Krüppel mit einem Wert von 5, der sinkt durch den Malus auf 2. Alle drei Wahrscheinlichkeiten sinken hier um denselben Betrag von 15 Prozentpunkten. Ok, relativ gesehen sinkt die Chance vom Dieb um 16 %, die vom Magier um 30 % und die vom Krüppel um 60 %.
Schauen wir mal auf dieselbe Situation bei 3W6. Wir versuchen, mit den Wahrscheinlichkeiten auf demselben Niveau zu bleiben. Die Mauer ist immer noch genauso schwierig, der Magier (an dem will ich mich mal orientieren) hat einen Wert von 10 und bekommt nen Malus von 15 Prozentpunkten (oder 30 %), das macht einen Malus von 1, d.h. der Magier darf höchstens eine 9 würfeln (statt der 10). Der Dieb, hat jetzt einen Wert von 15 und bekommt einen Malus von 1. Das macht eine Erschwernis von gerade mal 4 Prozentpunkten (oder relativ gesehen 4,2 %). Der Krüppel ist bei einem Wert von 8, der sinkt also auf 7. Macht einen Verlust von 10 Prozentpunkten (bzw. 38 %).
Der Magier bekommt also die größten Nachteile: Er hat einen mittleren Wert in Klettern, der um 15 Prozentpunkte gesenkt wird. Der Dieb übertrifft den Magier um Längen (Senkung um 4 Prozentpunkte), aber auch der Krüppel ist nicht so schlecht dran (Senkung um 10 Prozentpunkte).
Fazit: wenn es die Möglichkeit gibt, irgendwelche festen Boni oder Mali zu vergeben, sind einfache Würfel wesentlich sinnvoller als irgendwelche zusammengesetzten Sachen. Denn die Würfelsummen verzerren die Wahrscheinlichkeiten und dadurch werden mittlere Werte wesentlich stärker von diesen Boni betroffen als Randbereiche. Das kann zu irren Wahrscheinlichkeiten führen.
Ok, wenn man alles genau durchdacht hat und einen triftigen Grund für zusammengesetzte Würfel gibt, kann der gerne gelten. Die niedrigere Varianz als Argument anzuführen ist allerdings genauso sinnvoll wie der Farbe des Würfels die Schuld zu geben.