Autor Thema: Rezensionen zu Schreibratgebern  (Gelesen 751 mal)

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Offline AlexW

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Rezensionen zu Schreibratgebern
« am: 14.06.2008 | 14:33 »
Um zumindest was produktives zu tun, werde ich hier meine Eindruecke zu Schreibratgebern posten:


The Midnight Disease

Ich lese viel und gern ueber’s Schreiben. Das letzte war von Alice W Flaherty: “The Mightnight Disease”. Es gibt auch eine deutsche Uebersetzung vom Autorenhausverlag: “Die Mitternachtskrankheit”.

Ich hatte die deutsche Fassung im Buchladen gesehen und in der Hand, aber knapp 20 EUR waren mir dann doch zuviel Geld, und Uebersetzungen vermeide ich generell - die englischen Originale sind oft sprachlich besser, und mir kann’s ohnehin egal sein, welche Sprache ich lese. Naeher an den Autor heran kommt man, wenn man sich von der Seite der Original-Sprache naehert. Also habe ich mir das Buch dann auf Englisch fuer deutlich weniger Geld geholt - Wechselkurs wurde beruecksichtigt. Natuerlich muessen kleine Verlage zusehen, dass die Kalkulation aufgeht, von daher soll das kein Dissen des Autorenhaus-Verlages sein. Ich hab viel Geld bei denen gelassen, aber eben nur fuer deutsche Originale.

Alice W Flaherty ist Neurologin und Autorin. Sie befasst sich in dem Buch mit dem, womit wir Autoren schreiben - der grauen Masse in unseren Koepfen. Das graue Gewebe, das uns depressiv macht, Schreibblockaden beschert, in dem “Stimmen” wohnen, in denen Leute wie Voiata entstehen, das Gehirn, das uns nachts aus dem Bett treibt, um zu schreiben … Sie befasst sich dabei mit dem ganzen Komplex des Schreibens: Schreibdrang, Schreibzwang, Schreibblockade - und vergleicht diese mit Krankheiten wie Aphasie und Epilepsie, die teilweise aehnliche Symptome aufweisen (Blockaden, Depression, extreme Produktivitaet). Das ganze ist aufgelockert mit einigen Passagen aus den Werken bekannter Autoren, die ihre “Krankheitsbilder” sehr eloquent beschreiben, und ziemlich viel “Hintergrund” zur Autorin selbst.

Jedes Buch, das ein Autor uebers Schreiben schreibt, ist stark autobiographisch, natuerlich, das ist alles eigene Erfahrung. In diesem Fall ist es nicht anders. Flaherty erzaehlt viel aus ihrem eigenen Leben, und fuer mich zumindest werden Depressionen, chemisches Ungleichgewicht im Kopf und Epilepsie fuer immer mit den Zwillingen der Autorin verbunden bleiben, die kurz nach der Geburt verstorben sind. Man muesste das Buch also eigentlich “Schreib-Biographie einer Neurologin” nennen, denn wir erfahren wenigstens soviel ueber die Autorin wie ueber die Krankheiten.

Definitive Antworten gibt es auch nicht. Nur, dass Krankheiten wie Aphasie und Schizophrenie teilweise der “normalen” Schreiber-Existenz aehnlich sind. Dass das Schreiben eine neurologische Grundlage hat. Dass der Schreibprozess auch “mechanisch” ist, was mit Botenstoffen und elektrischen Impulsen zu tun hat und nicht nur mit dem “Ich”, sondern auch mit Neuronen, der grauen Masse, und allem, was da, auf der Ebene des reinen Tiers, schief gehen kann.

Das war interessant, spannend zu lesen, trotz toter Zwillinge und biographischer Elemente. Ich sage trotz, denn so extrem spannend finde ich Frau Flaherty als Person nicht, dass ich ihre Lebensgeschichte oder ihre toten Zwillinge unbedingt brauche. Ich denke, der Verlag hat vermutlich gesagt, sie darf kein Fachbuch schreiben, “lassen Sie’s mehr MENSCHELN, Mrs Flaherty, Ihre LESERINNEN SIND FRAUEN, die WOLLEN ES GEMENSCHELT HABEN.”

Wenigstens hat sie uns Sex-Szenen erspart, die FRAUINNEN auch lesen wollen. :)

Und so wurde gemenschelt, um das Publikum bei der Stange zu halten, denn wer will schon eine ganz ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schreib-Komplex?

Aeh, ich. Ich wuerde schrecklich gern so ein Buch lesen, ein wissenschaftliches, mit sauberer Methode und so. Aber das will die Masse nicht lesen, also wurde gemenschelt - fuer die Auflage. Fuer ein Publikum, dem schon ein paar Zahlen und die eine oder andere Statistik zu viel sind.

Wenn ich jetzt die toten Zwillinge aus dem Kopf kriegen koennte.


Empfehlung: Ja, aber. Mehr ein Werk zur Neurologie und eins zum Gedanken-Anstossen, fuer die Praxis eher nicht geeignet.