Illuans Alltag
Ich erwache mit einem leisen Schrei in meiner kleinen Höhle. Seit ein paar Tagen habe ich jede Nacht Alpträume, aber wenn ich aufwache, kann ich mich nicht daran erinnern, was ich geträumt habe. Trotzdem erwache ich schweißgebadet und mit einer vagen Furcht, die mich in den Morgen begleitet. Mir ist, als würde sich etwas nähern und als wäre ich heute schon fast in der Lage, es zu greifen und mich zu erinnern.
Für ein paar Momente sitze ich auf meiner dünnen Schlafmatte und versuche, den Nebel des Vergessens zu durchdringen. Ich habe gelernt, dass es einfacher ist, einer Bedrohung ins Auge zu sehen und sie durchzustehen, als tagelang voller Furcht darauf zu warten, dass etwas passiert. Es gelingt mir jedoch nicht, herauszufinden, was es ist, das mich jede Nacht so erschreckt.
Also rappele ich mich schließlich auf, denn von draußen sind auch schon die Schritte anderer Sklaven zu hören. Die meisten von ihnen schlafen in der großen Höhle ein Stück weiter den Gang hinunter, aber Syroxor hat darauf bestanden, dass ich alleine schlafe.
Gebückt trete ich in den grob behauenen Gang, der von den Sklavenquartieren zu den Wohnbereichen führt. Meine Höhle ist zu niedrig, als dass ich aufrecht stehen könnte, aber die Decke des Ganges ist hoch über mir und ich strecke mich. Die anderen Sklaven, die an mir vorbeikommen, schauen in eine andere Richtung. Zu oft hat Syroxor sich daran gestört, dass andere Sklaven sich mit mir abgegeben haben.
Heute jedoch scheint irgend etwas anders zu sein. Ich habe das Gefühl, dass die anderen Sklaven beginnen zu tuscheln, als sie mich sehen. Doch vielleicht ist dieser Eindruck nur eine Nachwirkung des Alptraums.
Kein anderes Haus in Xirr Nagesh hat Sklaven so vieler Rassen wie das Haus Thong Daigun. Die meisten, die in der großen Höhle wohnen, sind Menschen und Krask, aber auch Halblinge und Trolle sind darunter. Die wenigen Elfen und Dunkelelfen werden in anderen Quartieren gehalten, sie gelten als wertvoller. Ich weiß, dass ich auch wertvoll bin, aber meinem Wert schadet es wohl nicht, bei den Arbeitssklaven zu wohnen.
Mein erster Weg führt mich zu den unterirdischen Teichen, die in einer großen natürlichen Tropfsteinhöhle vor den Wohnquartieren liegen. Hier sind viele Sklaven zu Werke. Ich wasche mich sorgfältig, obwohl das Wasser eiskalt ist.
Dabei trifft mein Blick den von Faruk. Faruk ist ein junger Troll, der erst seit einem halben Jahr in Xirr Nagesh ist. Ich weiß, dass er sich noch schwer tut damit, sich den Regeln seiner neuen Herren zu unterwerfen. Oft sehe ich an ihm die Spuren von Schlägen. Einmal, als er zusammengesunken und offensichtlich verletzt in einem der Gänge zu den Sklavenquartieren saß, habe ich ihm Wasser gebracht. Ein anderes Mal, als ich es mit tiefen Wunden nicht ganz bis in meine Höhle geschafft hat, sondern kurz davor lag und darauf wartete, dass meine Wunden sich schlossen, hat er die Freundlichkeit erwidert. Gesprochen haben wir noch nicht miteinander. Für einen Moment erwidere ich seinen Blick. Ich mag das Feuer in seinen roten Augen.
Dann mache ich mich daran, Wasser für Syroxors Labor in zwei große Eimer zu füllen, die ich am Vorabend hier abgestellt hat.
Das Wasserjoch lastet schwer auf meinen Schultern, als ich es zum Labor bringt. Hinter der Höhle der Teiche beginnt der Wohnbereich der Dunkelelfen, wo der Boden mit kunstvollen Mosaiken gepflastert ist und Leuchtkristalle in regelmäßigen Abständen fein geschliffene Edelsteine in den Wänden beleuchten. Hier muss ich aufmerksam sein, um rechtzeitig jedem Sith auszuweichen, der an mir vorbeikommen könnte.
Heute begegnet mir nur Deixus, ein Sklavenjäger in den besten Jahren. Mit seinen leuchtenden roten Augen und seinen vollen, auffälligen dreifarbigen Haaren, in denen sich weiße, schwarze und graue Strähnen mischen, ist er sehr beliebt bei den Frauen. Schnell drücke ich mich gegen die Wand des Ganges und senke respektvoll den Kopf. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Deixus mir ein seltsames böses Lächeln zuwirft, während er vorbeieilt. In der Hand trägt er eine Pergamentrolle, von der das Große Siegel des Hauses Tyrannor hängt.
Wenig später komme ich im Labor an. Wie üblich ist Syroxor noch nicht da. Meine erste Aufgabe ist es, die vielen Kreaturen, die Syroxor in Käfigen und Gläsern hält, zu füttern. Es ist eine Aufgabe, die ich gerne mag. Inzwischen weiß ich, bei welchen Kreaturen ich vorsichtig sein muss, die Hand nur ganz langsam bewegen, damit sie sie nicht als Beute sehen, oder wo ich im Gegenteil die Hand ganz schnell zurückziehen muss, bevor sie ihre Krallen, Zähne oder Stacheln hineingeschlagen habe. Es gibt auch die, die ich streicheln kann und die es zu genießen scheinen. Besonders mag ich das kleine Äffchen, das immer gleich an die Vorderseite des Käfigs kommt, wenn es mich sieht und sein Köpfchen in meine Hand schmiegt, wenn ich sie zu ihm hineinhalte, selbst wenn kein Futter darin ist. Aber ich mag auch das Insekt mit den langen Beinen, das ich mit lebenden Käfern füttere, die ich in der geschlossenen Hand in das Glas hineinhebe, damit das Insekt ihre Bewegungen erst sieht, wenn ich meine Hand zurückziehe, denn es reagiert sofort auf jede rasche Bewegung und schnellt voll zielgerichteter Grazie auf sein Opfer zu, das es dann mit seinem Giftschwanz betäubt und aussaugt. Gift ist für mich schwieriger zu verwinden als Wunden, daher ist Syroxor sehr wütend, wenn ich mich von seinen giftigen Kreaturen beißen oder stechen lasse. Zum Glück ist das schon lange nicht mehr vorgekommen.
Heute finde ich eine Kreatur in einem Käfig, die ich noch nicht kenne. Es wirkt auf mich eher wie ein Dämon als wie ein Tier, denn es stinkt nach Schwefel und seine Augen folgen mit heimtückische Funkeln allen meinen Bewegungen. Es sieht ein wenig aus wie eine Fledermaus, aber es sitzt aufrecht auf seiner Stange und hat beinahe elfische Gesichtszüge, wenn es auch keine Nase hat, sondern nur zwei feine Löcher und nur einen Schlitz als Mund, in dem kleine, nadelspitze Zähne funkeln. Ich betrachte es eine Weile und es scheint meinen Blick zu erwidern.
„Bleib weg davon!“
Ich zucke zusammen, denn Syroxors Stimme ist anzuhören, dass er schlechte Laune hat. Er stürmt herein, den Arm voller Papiere, die er auf einem seiner Tische ablädt. Er murmelt etwas vor sich hin, von dem ich aber nur die Namen Markrendra und Tyrannor verstehe. Ich halte den Kopf gesenkt, um bloß keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Syroxor würde als schön gelten unter den Dunkelelfen mit seinem hochgewachsenen Wuchs, seinen glänzend-schwarzen Haaren und den feingezeichneten Gesichtszügen, wenn sein Körper nicht so auffallend dürr wäre und nicht eine große rote Narbe seine linke Wange entstellen würde.
Den Blick auf einen seiner schweren Beschwörungs-Kodizes geheftet, den er vor sich aufgeschlagen hat, weist Syroxor mich an: „Hol das Opfermesser, Mädchen, und eine Schale.“ Sofort folge ich dem Befehl und bringe ihm das schwarze Obsidianmesser sowie eine schwere goldene Opferschale. Ohne mich anzusehen, fasst Syroxor nach meinem Arm, der die Schale neben ihm abgestellt hat, hält ihn über die Schale und zieht mit einer schnellen Bewegung das Messer über mein Handgelenk. Ich zucke zusammen, kann aber verhindern, dass ich einen Laut von mir gebe. Noch während mein Blut in die goldene Schale tropft, spüre ich die Hitze in meiner Haut, die mir verrät, dass die Wunde bereits dabei ist, sich zu schließen. Als der Blutstrom versiegt, lässt Syroxor meinen Arm los und schickt mich weitere Ritualbestandteile holen.