Autor Thema: (0) Einladung für den Bettlerkönig [Estrella, Beatriz, Juan Marcos].  (Gelesen 2012 mal)

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oliof

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In den Augen Estrellas war ein Anflug von Mißfallen zu erkennen, als die Mutter Oberin ihren Plan erklärt. „Schwester, ich verstehe Eure Zweifel, aber wir dürfen nicht die gleichen Fehler wiederholen, die die Männer nun schon seit Jahrhunderten begehen. Das Volk schaut genau, wie wir hier in Zenith handeln, und Loyalität können wir weder erkaufen, noch erzwingen; wir müssen beweisen, dass die Herrschaft der Himmelskaiserin, Mondtochter und Sonnenkind, eine neue Ära einläutet. Und dazu gehört, auch die Vertreter der Untersten unserer Stadt einzuladen.“ Mit diesen Worten unterzeichnet sie die Karte, legt den Gänsekiel beiseite und reicht sie Estella. „Ihr wißt was zu tun ist. Bringt dies dem Bettlerkönig.“



Estella zwängt sich durch die dichtgefüllten Straßen Zeniths. Die Gerüchte um eine Burg des Friedens und lebensspendende Sonne hat einfaches Volk aller Coleur angelockt – Waisen, die ihre Eltern an den Kriegstroß verloren haben, Deserteure, Witwen – aber auch Glücksritter, Söldner und Kriegsgewinnler, die von den Möglichkeiten, die diese Stadt versprach, angezogen wurden wie fliegen von einem faulenden Kadaver.

Der Blick der Edeldame wandert in Richtung der Zitadelle, deren Ruinenbauten wie gammlige Zähne in die Luft ragen. Die Rattenfänger haben volle Arbeit geleistet, doch wie lange wird es dauern, bis die Mauern und Türme wieder im Licht der Sonne gleißen? fragt sie sich wie jedes Mal, doch dann verschließt sie ihren inneren Blick vor dem Trugbild, dass ihr immer so wahr, und doch so unerreichbar erscheint.

Sie schlägt sich weiter durch die Gassen, bis sie an Juan Marcos' Stammplatz ankommt. Schon von Ferne hört sie seinen kratzend-rauhen Singsang: „Beweist Eure Mildtätigkeit, eine kleine Gabe, ich bitte Euch um ein Almosen für einen Narren, dem der Krieg das Augenlicht genommen hat, zeigt Eure Gnade …“ als Estella endlich vor ihm steht, bricht Juan mit der Gewißheit eines Blinden, der weiss, dass jemand vor ihm steht, seinen Sermon ab. „Die Mutter Oberin schickt mich“, sagt Estrella und der Bettler verbeugt sich mit einem Lächeln, das halb abschätzig, halb belustigt ist, faßt den Rocksaum der Lebedame, und beginnt ein Kichern, das auch ein blutiger Husten sein könnte. „Ah, Dame Estrella, heute wieder im Nesselstoff unterwegs? Ihr werdet aber nur Euresgleichen täuschen, solange Euer Waschweib das 'gemeine Kleid' für Euch plättet – eine rechtschaffen arbeitende Frau hat dafür keine Zeit. Welches Almosen bringt ihr dem alten Juan Marcos? Soll gar die kaiserliche Sonne mein Gesicht küssen? Ich glaube doch kaum…“

Esmeralda bebte innerlich, doch sie zeigte Contenance. „Ein Brief der Mutter Oberin, für Saul. Sorgt dafür, dass er ihn erhält.“ „Aber natürlich, Schwester“ antwortet der alte Bettler. Esmeralda drückt ihm einen halben Laib alten Brotes in die Hand und wendet sich ab, doch sie kann den schier endlosen Dankeshuldigungen nicht entgehen: „Größten Dank, edle Frau, ihr habt einem Nichtswürdigen den Tag versüßt, den Hunger gestillt, und das Leben gerettet. Möge die kaiserliche Sonne immer auf Euch scheinen, und möget Ihr in Euren Nächten sicher und gut schlafen, ewige Gesundheit und …“